philosophische Landschaften

»Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel;
denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden (...).
Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.«

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft


»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...)
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?



VORBLATT ZUM »KATEGORISCHEN IMPERATIV« KANTS:

Zusammenstellung von Textpassagen zum »kategorischen Imperativ« aus seinen Werken

Wohl kaum ein Begriff wird mit der kritischen Philosophie Kants in unmittelbarere Verbindung gebracht wie derjenige des »kategorischen Imperativs«.

Eine Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Kants Moralphilosophie bzw. mit seinen Auffassungen von einer normativen Pflicht- und Zweckethik reißt seit der Veröffentlichung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie der Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht ab und wird bis in unsere Zeit nach wie vor mehr oder weniger vehement, mit mehr oder weniger direktem Bezug auf jene Schriften geführt. Niemand, der sich für Fragen nach moralischem Handeln und ethischem Verhalten interessiert, kommt an ihnen letztlich vorbei. Dies gilt insbesondere für das von Kant aufgestellte Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: seinen »kategorischen Imperativ«.

Gibt es doch meines Wissens kein (wirklich ernst zu nehmendes) Lehrbuch oder keine Sammlung philosophischer Texte zur Ethik, in dem bzw. in der der bekannte Imperativ nicht entweder selbst im Wortlaut enthalten ist oder zumindest auf diesen oder auf eine der vielen Fassungen mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen (direkt oder indirekt) Bezug genommen wird.


Dass nicht nur die für unsere heutigen Ohren antiquiert wirkende Ausdrucksweise Kants, sondern auch dessen gewöhnungsbedürftige Begrifflichkeiten und vor allem sein Schreibstil mit den schier endlosen Satzkonstruktionen und Satzgefügen es dem Leser oder der Leserin nicht gerade leicht machen, seinen komplex entwickelten Gedankengängen zu folgen, ist unbestritten. Dennoch ist es meiner Ansicht nach der Mühe wert und lohnt die zweifellos aufzubringende Anstrengung, sich so weit wie möglich vorbehaltlos interessiert darauf einzulassen – egal, zu welchem anschließenden Urteil, das dann aber reflektiert und zugleich reflexiv vorgenommen werden kann, der oder die einzelne auch immer gelangen mag.


An dieser Stelle sei es mir erlaubt, für Kants immer wieder als rigoristische und zudem nur formalistische Pflichtethik abgetane idealistische Moralphilosophie eine »Lanze zu brechen« (eine an idealistische Vorstellungen aus dem mittelalterlichen Turnierwesen anknüpfende Wendung). Zu diesem Zweck möchte ich eine längere Passage aus Nur daß ich ein Mensch sei. Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant (1996) von Arnulf Zitelmann anführen (da sie das zum Ausdruck bringt, wozu ich selbst in derartig sprachlich akzentuierter Weise nicht in der Lage bin, betrifft es – im eigentlichen Wortsinn – ja auch mich selbst und erinnert mich zudem stark an einen mittlerweile allbekannten Zweizeiler Arnold Haus aus seiner Tierwelt - Wunderwelt, der da lautet: Die schärfsten Kritiker der ELCHE / waren früher selber welche.):

Die Ethik des kategorischen Imperativs sperrt sich gegen Überheblichkeitsgefühle. Zugegeben, es ist verführerisch, sich Moral durch Gruppenzugehörigkeit zu attestieren. – Stimmt die Gruppe, stimmt die Moral. Befinde ich mich in der richtigen Clique, habe ich das richtige Thema – Umwelt, Frieden, Frauen, Menschenrechte – im Kopf, bin scheinbar automatisch ein besserer Mensch. Und wer möchte das nicht sein? Kant allerdings widersteht der moralischen Schulmeisterei [ganz im Gegensatz zu mir!], »weil, wenn vom moralischen Wert die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht«. (...) Moral im Sinne Kants hakt ganz allein bei der Selbstbestimmung, dem Faktum der Vernunft, an. Sie steht auf sich selbst, bedarf keiner Gruppenmoral, bedarf keines Außenhalts. Das ist ihre Stärke.

Resignative Selbstbescheidung kommt in Kants Wörterbuch nicht vor. Seine Moral ist gefeit gegen Frust, gegen jegliche Art von Enttäuschung. (...) Also, egal, ob es fünf vor zwölf oder schon fünf nach ist, ich werde versuchen, das Rechte zu tun. (...)

Denn allein die moralische Selbstbestimmung definiert mich als Menschen. Auch wenn es »schlechterdings unmöglich« ist, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen«, wo ich mich im Sinne des kategorischen Imperativs moralisch verhalten hätte! – Den Moralisten sei dies Votum Kants zu bedenken gegeben, allen moralischen Terroristen zumal: Moral läßt sich nicht dingfest machen. Nirgends, in keinem nur denkbaren Fall. In unseren virtuellen Erfahrungsräumen, der Sekundärwirklichkeit, bildet sich die Primärwirklichkeit, Freiheit, immer nur gebrochen, zweideutig, vieldeutig ab. So daß auch »bei der schärfsten Selbstprüfung« auf die Moralität »nicht mit Sicherheit geschlossen werden« kann, deren sich die Tugendwächter jeder Couleur bezüglich der eigenen Person so sicher zu sein glauben. Alle »eigenliebige Selbstschätzung« gerät unweigerlich zum Possenspiel, »weil die Tiefe des Herzens« dem Menschen »unerforschlich« ist.

Kein Ethiker vor und nach ihm hat der moralischen Selbstüberschätzung so vehement widerstanden wie Kant. Seine Moral ist darum nicht elitär, menschenverachtend, sondern menschenfreundlich wie keine andere. Es ist also nur konsequent, wenn Kants Ethik sich, fern aller Laxheit, dem höchsten nur denkbaren Standard verpflichtet: die Menschheit als Solidaridee sowohl in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden anderen zu achten. Und das eben bedeutet, gerade weil die Verhältnisse sind, wie sie sind, sich moralischer Kurzatmigkeit zu widersetzen, langen Atem zu behalten. Daraus schöpft Kants Moralphilosophie ihre Unaufgeregtheit.

Schwärmerische Askese, die (...) mit »Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung« zu Werke geht, dient nicht der Tugend, wiederholt Kant immer wieder. Befördert wird diese allein durch »ethische Gymnastik«, eine praktische Moral, in der sich das »jederzeit fröhliche Herz des tugendhaften Epikur« zu erkennen gibt.
[Anm.: sämtliche in der Passage enthaltenen Zitate stammen aus Kants Werken]



Die im Folgenden von mir vorgenommene Zusammenstellung von Textpassagen ist nur insofern objektiv zu nennen, als sie allein den Gegenstand, nämlich den »kategorischen Imperativ« selbst (und dessen unterschiedliche Fassungen) im Blick hat. Die getroffene Auswahl der mitgelieferten Auffüllungen durch jeweils umgebenden Text ist dagegen subjektiv und soll – so hoffe ich – lediglich dazu dienen, Aussagen Kants zumindest ansatzweise in ihren jeweiligen Begründungszusammenhängen erkennbar und nachvollziehbar werden zu lassen.

Dabei sind die für die Zeit Kants spezifischen Spracheigenheiten (aufgrund fehlender allgemein verbindlicher Standards) sowohl in grammatikalischer, orthographischer sowie die Interpunktion betreffender Hinsicht unverändert (u. z. entsprechend der von mir verwendeten Werkausgabe von W. Weischedel) übernommen worden (und beruhen in diesem Falle – was für ein Glück! – nicht auf sprachlichen Unzulänglichkeiten meinerseits!).


[23.02.2012 – Foto ergänzt: 26.06.2012]

[aufgenommen im
IKG - Bad Oeynhausen
am 03.04.2012]





TITEL / TEXT / QUELLENANGABE SEITE BEMERKUNGEN
Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis)

Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht, und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die, als Gesetze, eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben. S.326
Auf diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freiheit gründen sich unbedingte praktische Gesetze, welche moralisch heißen, die in Ansehung unser, deren Willkür sinnlich affiziert und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft widerstrebend ist, Imperativen (Gebote oder Verbote) und zwar kategorische (unbedingte) Imperativen sind, wodurch sie sich von den technischen (den Kunst-Vorschriften), als die jederzeit nur bedingt gebieten, unterscheiden, nach denen gewisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt, d. i. moralisch möglich oder unmöglich, einige derselben aber, oder ihr Gegenteil moralisch notwenig, d. i. verbindlich sind, woraus dann für jene der Begriff einer Pflicht entspringt, deren Befolgung oder Übertretung zwar auch mit einer Lust oder Unlust von besonderer Art (der eines moralischen Gefühls) verbunden ist, auf welche wir aber (weil sie nicht den Grund der praktischen Gesetze, sondern nur die subjektive Wirkung im Gemüt bei der Bestimmung unserer Willkür durch jene betreffen und – ohne jener ihrer Gültigkeit oder Einflusse objektiv, d. i. im Urteil der Vernunft, etwas hinzuzutun oder zu benehmen – nach Verschiedenheit der Subjekte verschieden sein kann) in praktischen Gesetzen der Vernunft gar nicht Rücksicht nehmen.
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.327 anders als im verwendeten Primärtext, in dem die Aussage ohne jener (...) zu benehmen in einer Klammer innerhalb einer Klammer steht, aus Gründen besserer Lesbarkeit in hier Parenthese (Gedankenstriche) gesetzt

Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis)

Folgende Begriffe sind der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Teilen gemein.
Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.
(...)
S.327
Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht sein (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.
(...)
S.328
Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist.
(...)
S.329
Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht, ist ein praktisches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime; daher bei einerlei Gesetzen doch die Maximen der Handelnden sehr verschieden sein können.
Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist:
S.331
handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. – Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere.
Die Einfachheit dieses Gesetzes in Vergleichung mit den großen und mannigfaltigen Folgerungen, die daraus gezogen werden können, imgleichen das gebietende Ansehen, ohne daß es doch sichtbar eine Triebfeder bei sich führt, muß freilich anfänglich befremden. Wenn man aber, in dieser Verwunderung über ein Vermögen unserer Vernunft, durch die bloße Idee der Qualifikation einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen Gesetzes die Willkür zu bestimmen, belehrt wird: daß eben diese praktischen Gesetze (die moralischen) eine Eigenschaft der Willkür zuerst kund machen, auf die keine spekulative Vernunft, weder aus Gründen a priori, noch durch irgendeine Erfahrung, geraten hätte, und, wenn sie darauf geriet, ihre Möglichkeit durch nichts dartun könnte, gleichwohl aber jene praktischen Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Freiheit, unwidersprechlich dartun: so wird es weniger befremden, diese Gesetze, gleich mathematischen Postulaten, unerweislich und doch apodiktisch zu finden, zugleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee der Freiheit, ja jeder anderer ihrer Ideen des Übersinnlichen im Theoretischen alles schlechterdings vor ihr verschlossen finden muß. Die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die Gesetzmäßigkeit (legalitas) – die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze der Sittlichkeit (moralitas) derselben. Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will). Dagegen ist der Grundsatz der Pflicht das, was ihm die Vernunft schlechthin, mithin objektiv gebietet (wie er handeln soll).
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.331 11. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs



















- apodiktisch: unumstößlich; unwiderleglich; von schlagender Beweiskraft; keinen Widerspruch duldend; endgültig; keine andere Meinung gelten lassend; im Urteil streng und intolerant


Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis)

Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also:
handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider. S.332 12. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs
Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetze geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden. S.332
Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae), definiert werden – wie es wohl einige versucht haben –, obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt. Denn die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden. Als Noumen aber, d. i. nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz betrachtet, wie sie in Ansehung der sinnlichen Willkür nötigend ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir sie theoretisch gar nicht darstellen. Nur das können wir einsehen: daß, obgleich der Mensch, als Sinnenwesen, der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definiert werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Objekt (dergleichen doch die freie Willkür ist) verständlich machen können, und das die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann, wenn gleich die Erfahrung oft genug beweist, daß es geschieht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können).
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
- Phänomen: etwas, was als Erscheinungsform auffällt, ungewöhnlich ist; das Erscheinende, sich den Sinnen Zeigende; der sich der Erkenntnis darbietende Bewusstseinsinhalt
- Noumen: [Noumenon] das mit dem Geist zu Erkennende i. Ggs. zu dem mit den Augen zu Sehende (Platon); das bloß Gedachte, objektiv nicht Wirkliche bzw. der (theoretischer) Begriff ohne (realen) Gegenstand (Kant)
- intelligibel: nur durch den Intellekt  i. Ggs. zur sinnlichen Wahrnehmung bzw. zur Erfahrung erkennbar;
Intellekt: die Fähigkeit, das Vermögen unter Einsatz des Denkens Erkenntnisse bzw. Einsichten zu erlangen; das Denk-, Erkenntnisvermögen; der Verstand

§ C. Allgemeines Prinzip des Rechts

»Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.« S.337 13. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs
Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen. S.337
Es folgt hieraus auch: daß nicht verlangt werden kann, daß dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d. i. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache; denn ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue. Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.338

§ C. Allgemeines Prinzip des Rechts

(...)
Also ist das allgemeine Rechtsgesetz:
handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist. (...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.338 14. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs

Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt

(...)

Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht

(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.348 lediglich graphisch in etwas veränderter Darstellung wiedergegeben;
vgl. »Tafel der Tugendpflichten«

III. Von dem Grunde, sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken

Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmte, wodurch jener hervorgebracht wird. Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben. Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt) sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet.
Es muß nun einen solchen Zweck und einen ihm korrespondierenden kategorischen Imperativ geben. Denn, da es freie Handlungen gibt, so muß es auch Zwecke geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind. Unter diesen Zwecken aber muß es auch einige geben, die zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind. – Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt.
S.514
Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zwecke machen soll. Man kann jene die technische (subjektive), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl seiner Zwecke enthaltende; diese aber muß man die moralische (objektive) Zwecklehre nennen; welche Unterscheidung hier doch überflüssig ist, weil die Sittenlehre sich schon durch ihren Begriff von der Naturlehre (hier der Anthropologie) deutlich absondert, als welche letztere auf empirischen Prinzipien beruhet, dagegen die moralische Zwecklehre, die von Pflichten handelt, auf a priori in der reinen praktischen Vernunft gegebenen Prinzipien beruht.

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.515
- Anthropologie: Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung
- empirisch: aus der Erfahrung gewonnen, erfahrungsgemäß; auf dem Wege der Empirie gewonnen;
Empirie: eine Methode, die sich Erfahrung stützt, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen; Erfahrungswissen


IV. Welches sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind?

Sie sind: Eigene Vollkommenheit – Fremde Glückseligkeit.
Man kann diese nicht gegen einander umtauschen und eigene Glückseligkeit, einerseits, mit fremder Vollkommenheit, andererseits, zu Zwecken machen, die an sich selbst Pflichten derselben Person wären.
Denn eigene Glückseligkeit ist ein Zweck, den zwar alle Menschen (vermöge des Antriebes ihrer Natur) haben, nie aber dieser Zweck als Pflicht angesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Was ein jeder unvermeidlich schon von sich selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht; denn diese ist eine Nötigung zu einem ungern genommenen Zweck. Es widerspricht sich also zu sagen: man sei verpflichtet, seine eigene Glückseligkeit mit allen Kräften zu befördern.
S.515 zwar gibt es nach Kant keine zwecklosen Handlungen, jedoch würde die Freiheit moralischer Entscheidung ersetzt werden, wenn sämtliche Entscheidungen des Lebens lediglich eine Zweck-Mittel-Abwägung darstellten;
unbedingter Zweck ist nach Kant zuallererst:
der Mensch als Zweck an sich selbst;
aus diesen leiten sich die beiden anderen Zwecke ab, die frei sind von jeglicher Bedingung sinnlicher Reize und Neigungen, die dennoch unbedingt verbindlich, ja verpflichtend sind:
die eigene Vollkommenheit
die fremde Glückseligkeit

Eben so ist es ein Widerspruch: eines anderen Vollkommenheit mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung für verpflichtet zu halten. Denn darin besteht eben die Vollkommenheit eines andern Menschen, als einer Person, daß er selbst vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas tun soll, was kein anderer als er selbst tun kann.

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.516

VI. Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut die Jus) sondern nur für die Maximen der Handlungen

Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein Gesetz (wenn ich gleich noch von allem Zweck, als der Materie derselben, abstrahiere); wie denn das formale Prinzip der Pflicht im kategorischen Imperativ: S.519
»handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne«, es schon anzeigt; nur daß in der Ethik dieses als Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille anderer sein könnte: wo es alsdenn eine Rechtspflicht abgeben würde, die nicht in das Feld der Ethik gehört. – Die Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren; welches nur ein negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist.
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.519 15. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs

VII. Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit

(...)
Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der Tat das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird. (...) S.520
Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst (meritum) = + a; ihre Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = - a, sondern bloß moralischer Unwert = 0, außer, wenn es dem Subjekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. Die Stärke des Vorsatzes im ersteren heißt allein Tugend (virtus), die Schwäche in der zweiten nicht sowohl Laster (vitium) als vielmehr bloß Untugend, Mangel an moralischer Stärke (defectus moralis). (Wie das Wort Tugend von taugen, so stammt Untugend von zu nichts taugen.) Eine jede pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung (peccatum). Die vorsätzliche aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man Laster (vitium) nennt.

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
vgl. Schaubild über die »Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht«

IX. Was ist Tugendlehre?

Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. – Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatze in Streit kommen können, und, da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht, nach dem formalen Gesetz derselben.
Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nötigung durch das Gesetz; die ethische eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten dagegen eine solche Nötigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist; beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzweck oder Zwang durch einen andern sein: da dann das moralische Vermögen des ersteren Tugend, und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt. Denn es ist die Tugendlehre, welche gebietet, das Recht der Menschen heilig zu halten.
Aber, was zu tun Tugend ist, das ist darum noch nicht so fort eigentliche Tugendpflicht. Jenes kann bloß das Formale der Maximen betreffen, diese aber geht auf die Materie derselben, nämlich auf einen Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird. – Da aber ethische Verbindlichkeit zu Zwecken, deren es mehrere geben kann, nur eine weite ist, weil sie da bloß ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält und der Zweck die Materie (Objekt) der Willkür ist, so gibt es viele, nach Verschiedenheit des gesetzlichen Zwecks verschiedene, Pflichten, welche Tugendpflichten (officia honestatis) genannt werden; eben darum, weil sie bloß dem freien Selbstzwange, nicht dem anderer Menschen, unterworfen sind und die den Zweck bestimmen, der zugleich Pflicht ist.
(...)

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.525

IX. Was ist Tugendlehre?

(...)
Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist, wie alles Formale, bloß eine und dieselbe. Aber in Ansehung des Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d. i. desjenigen (des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll, kann es mehr Tugenden geben und die Verbindlichkeit zu der Maxime desselben heißt Tugendpflicht, deren es also viele gibt.
Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:
S.526
handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. – Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebiten, als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt.

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.526 16. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs






- Deduktion: Ableitung des Besonderen und Einzelnen aus dem Allgemeinen; Erkenntnis des Einzelfalls durch ein allgemeines Gesetz; logische Ableitung von Aussagen aus anderen Aussagen mit Hilfe logischer Schlussregeln


XI. Das Schema der Tugendpflichten kann obigen Grundsätzen gemäß auf folgende Art verzeichnet werden:

Tafel der Tugendpflichten

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.529 lediglich graphisch in etwas veränderter Darstellung wiedergegeben;
vgl. »Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht«


Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ

Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig
München; (1995) 5. Aufl. 1999
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) / Bd. 30144 / 124 Seiten
ISBN: 3-423-30144-9
sehr gute, durchweg verstehbar dargestellte und infolgedessen sehr empfehlenswerte Einführung in Kants kategorischen Imperativ







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