philosophische Landschaften

»Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel;
denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden (...).
Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.«

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft


»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...)
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?



VORBLATT ZUM »KATEGORISCHEN IMPERATIV« KANTS:

Zusammenstellung von Textpassagen zum »kategorischen Imperativ« aus seinen Werken

Wohl kaum ein Begriff wird mit der kritischen Philosophie Kants in unmittelbarere Verbindung gebracht wie derjenige des »kategorischen Imperativs«.

Eine Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Kants Moralphilosophie bzw. mit seinen Auffassungen von einer normativen Pflicht- und Zweckethik reißt seit der Veröffentlichung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie der Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht ab und wird bis in unsere Zeit nach wie vor mehr oder weniger vehement, mit mehr oder weniger direktem Bezug auf jene Schriften geführt. Niemand, der sich für Fragen nach moralischem Handeln und ethischem Verhalten interessiert, kommt an ihnen letztlich vorbei. Dies gilt insbesondere für das von Kant aufgestellte Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: seinen »kategorischen Imperativ«.

Gibt es doch meines Wissens kein (wirklich ernst zu nehmendes) Lehrbuch oder keine Sammlung philosophischer Texte zur Ethik, in dem bzw. in der der bekannte Imperativ nicht entweder selbst im Wortlaut enthalten ist oder zumindest auf diesen oder auf eine der vielen Fassungen mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen (direkt oder indirekt) Bezug genommen wird.


Dass nicht nur die für unsere heutigen Ohren antiquiert wirkende Ausdrucksweise Kants, sondern auch dessen gewöhnungsbedürftige Begrifflichkeiten und vor allem sein Schreibstil mit den schier endlosen Satzkonstruktionen und Satzgefügen es dem Leser oder der Leserin nicht gerade leicht machen, seinen komplex entwickelten Gedankengängen zu folgen, ist unbestritten. Dennoch ist es meiner Ansicht nach der Mühe wert und lohnt die zweifellos aufzubringende Anstrengung, sich so weit wie möglich vorbehaltlos interessiert darauf einzulassen – egal, zu welchem anschließenden Urteil, das dann aber reflektiert und zugleich reflexiv vorgenommen werden kann, der oder die einzelne auch immer gelangen mag.


An dieser Stelle sei es mir erlaubt, für Kants immer wieder als rigoristische und zudem nur formalistische Pflichtethik abgetane idealistische Moralphilosophie eine »Lanze zu brechen« (eine an idealistische Vorstellungen aus dem mittelalterlichen Turnierwesen anknüpfende Wendung). Zu diesem Zweck möchte ich eine längere Passage aus Nur daß ich ein Mensch sei. Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant (1996) von Arnulf Zitelmann anführen (da sie das zum Ausdruck bringt, wozu ich selbst in derartig sprachlich akzentuierter Weise nicht in der Lage bin, betrifft es – im eigentlichen Wortsinn – ja auch mich selbst und erinnert mich zudem stark an einen mittlerweile allbekannten Zweizeiler Arnold Haus aus seiner Tierwelt - Wunderwelt, der da lautet: Die schärfsten Kritiker der ELCHE / waren früher selber welche.):

Die Ethik des kategorischen Imperativs sperrt sich gegen Überheblichkeitsgefühle. Zugegeben, es ist verführerisch, sich Moral durch Gruppenzugehörigkeit zu attestieren. – Stimmt die Gruppe, stimmt die Moral. Befinde ich mich in der richtigen Clique, habe ich das richtige Thema – Umwelt, Frieden, Frauen, Menschenrechte – im Kopf, bin scheinbar automatisch ein besserer Mensch. Und wer möchte das nicht sein? Kant allerdings widersteht der moralischen Schulmeisterei [ganz im Gegensatz zu mir!], »weil, wenn vom moralischen Wert die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht«. (...) Moral im Sinne Kants hakt ganz allein bei der Selbstbestimmung, dem Faktum der Vernunft, an. Sie steht auf sich selbst, bedarf keiner Gruppenmoral, bedarf keines Außenhalts. Das ist ihre Stärke.

Resignative Selbstbescheidung kommt in Kants Wörterbuch nicht vor. Seine Moral ist gefeit gegen Frust, gegen jegliche Art von Enttäuschung. (...) Also, egal, ob es fünf vor zwölf oder schon fünf nach ist, ich werde versuchen, das Rechte zu tun. (...)

Denn allein die moralische Selbstbestimmung definiert mich als Menschen. Auch wenn es »schlechterdings unmöglich« ist, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen«, wo ich mich im Sinne des kategorischen Imperativs moralisch verhalten hätte! – Den Moralisten sei dies Votum Kants zu bedenken gegeben, allen moralischen Terroristen zumal: Moral läßt sich nicht dingfest machen. Nirgends, in keinem nur denkbaren Fall. In unseren virtuellen Erfahrungsräumen, der Sekundärwirklichkeit, bildet sich die Primärwirklichkeit, Freiheit, immer nur gebrochen, zweideutig, vieldeutig ab. So daß auch »bei der schärfsten Selbstprüfung« auf die Moralität »nicht mit Sicherheit geschlossen werden« kann, deren sich die Tugendwächter jeder Couleur bezüglich der eigenen Person so sicher zu sein glauben. Alle »eigenliebige Selbstschätzung« gerät unweigerlich zum Possenspiel, »weil die Tiefe des Herzens« dem Menschen »unerforschlich« ist.

Kein Ethiker vor und nach ihm hat der moralischen Selbstüberschätzung so vehement widerstanden wie Kant. Seine Moral ist darum nicht elitär, menschenverachtend, sondern menschenfreundlich wie keine andere. Es ist also nur konsequent, wenn Kants Ethik sich, fern aller Laxheit, dem höchsten nur denkbaren Standard verpflichtet: die Menschheit als Solidaridee sowohl in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden anderen zu achten. Und das eben bedeutet, gerade weil die Verhältnisse sind, wie sie sind, sich moralischer Kurzatmigkeit zu widersetzen, langen Atem zu behalten. Daraus schöpft Kants Moralphilosophie ihre Unaufgeregtheit.

Schwärmerische Askese, die (...) mit »Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung« zu Werke geht, dient nicht der Tugend, wiederholt Kant immer wieder. Befördert wird diese allein durch »ethische Gymnastik«, eine praktische Moral, in der sich das »jederzeit fröhliche Herz des tugendhaften Epikur« zu erkennen gibt.
[Anm.: sämtliche in der Passage enthaltenen Zitate stammen aus Kants Werken]



Die im Folgenden von mir vorgenommene Zusammenstellung von Textpassagen ist nur insofern objektiv zu nennen, als sie allein den Gegenstand, nämlich den »kategorischen Imperativ« selbst (und dessen unterschiedliche Fassungen) im Blick hat. Die getroffene Auswahl der mitgelieferten Auffüllungen durch jeweils umgebenden Text ist dagegen subjektiv und soll – so hoffe ich – lediglich dazu dienen, Aussagen Kants zumindest ansatzweise in ihren jeweiligen Begründungszusammenhängen erkennbar und nachvollziehbar werden zu lassen.

Dabei sind die für die Zeit Kants spezifischen Spracheigenheiten (aufgrund fehlender allgemein verbindlicher Standards) sowohl in grammatikalischer, orthographischer sowie die Interpunktion betreffender Hinsicht unverändert (u. z. entsprechend der von mir verwendeten Werkausgabe von W. Weischedel) übernommen worden (und beruhen in diesem Falle – was für ein Glück! – nicht auf sprachlichen Unzulänglichkeiten meinerseits!).


[23.02.2012 – Foto ergänzt: 26.06.2012]

[aufgenommen im
IKG - Bad Oeynhausen
am 03.04.2012]





2. Kritik der praktischen Vernunft (1788)

TITEL / TEXT / QUELLENANGABE SEITE BEMERKUNGEN
Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 1. Erklärung
Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber, oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird.

Anmerkung
(...)
S.125
Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung, als ein Mittel zur Wirkung, als Absicht vorschreibt. Diese Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet, daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmete, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde. Die Imperativen gelten also objektiv, und sind von Maximen, als subjektiven Grundsätzen, gänzlich unterschieden. Jene bestimmen aber entweder die Bedingungen der Kausalität des vernünftigen Wesens, als wirkender Ursache, bloß in Ansehung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben, oder sie bestimmen nur den Willen, er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht. Die erstere würden hypothetische Imperativen sein, und bloße Vorschriften der Geschicklichkeit enthalten; die zweiten würden dagegen kategorisch und allein praktische Gesetze sein. Maximen sind also zwar Grundsätze, aber nicht Imperativen. Die Imperativen selber aber, wenn sie bedingt sind, d. i. nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen, d. i. hypothetische Imperativen sind, sind zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze. (...)

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.126

Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 2. Lehrsatz I
Alle praktische Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben.
Ich verstehe unter der Materie des Begehrungsvermögens einen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird. Wenn die Begierde nach diesem Gegenstande nun vor der praktischen Regel vorhergeht, und die Bedingung ist, sie sich zum Prinzip machen, so sage ich (erstlich): dieses Prinzip ist alsdann jederzeit empirisch. Denn der Bestimmungsgrund der Willkür ist alsdann die Vorstellung eines Objekts, und dasjenige Verhältnis derselben zum Subjekt, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird. Ein solches Verhältnis aber zum Subjekt heißt die Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes. Also müßte diese als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür vorausgesetzt werden. Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde. Also muß in solchem Falle der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn als Bedingung voraussetzte.
Da nun (zweitens) ein Prinzip, das sich nur auf die subjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust (die jederzeit nur empirisch erkannt, und nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültig sein) gründet, zwar wohl für das Subjekt, das sie besitzt, zu ihrer Maxime, aber auch für diese selbst (weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priori erkannt werden muß, mangelt) nicht zum Gesetze dienen kann, so kann ein solches Prinzip niemals ein praktisches Gesetz abgeben.

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.127

Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 3. Lehrsatz II
Alle materiale praktische Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit. (...)
S.128
Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die Glückseligkeit, und das Prinzip, diese sich zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe. Also sind alle materiale Prinzipien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oder Unlust setzen, so fern gänzlich von einerlei Art, daß sie insgesamt zum Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit gehören.
(...)

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.129

Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 4. Lehrsatz III
(...)
Die Materie eines praktischen Prinzips ist der Gegenstand des Willens. Dieser ist entweder der Bestimmungsgrund des letzteren, oder nicht. Ist er der Bestimmungsgrund desselben, so würde die Regel des Willens einer empirischen Bedingung (dem Verhältnisse der bestimmenden Vorstellung zum Gefühle der Lust und Unlust) unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein. Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. (...)

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.135

Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 5. Aufgabe I
Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende Bestimmungsgrund eines Willens sei: die Beschaffenheit desjenigen willens zu finden, der dadurch allein bestimmbar ist.
Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört: so ist die Vorstellung derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der Kausalität unterscheiden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetze der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungsweise auf einander, gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.138
- transzendental: nach Kant das Vermögen, das vor jeder Erfahrung, a priori, im Bewusstsein befindlich angesehen werden kann und alle Erfahrungserkenntnis erst möglich macht; es ist streng zu unterscheiden von transzendent, was die Grenzen der Erfahrung und die sinnlich erkennbare Welt überschreitend bedeutet (vgl. Kritik der reinen Vernunft, S.63 [B 25]);
Transzendenz: das Überschreiten der Grenzen der Erfahrung;
deswegen wird die Philosophie Kants auch als Transzendental-Philosophie bezeichnet, da er in ihr sowohl die Bedingungen der Möglichkeit als auch diejenigen der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens untersucht


Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

S.140 10. Fassung (Version) des kategorischen Imperativs;
diese Fassung gilt als die Definition des kategorischen Imperativs schlechthin und ist wohl die bekannteste und in aller Regel am häufigsten zitierte
(...)
Anmerkung
(...) Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin, als kategorisch praktischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist) objektiv bestimmt. Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Die Sache ist befremdlich genug, und hat ihres gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht. (...) Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfodert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. (...)

S.141
Folgerung
Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.

Anmerkung
S.142
(...) Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheiten desselben, macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Prinzipien a priori (denn diese haben allein diejenige Notwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatze fodert), fähig sein. Es schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willen haben (...). Im ersteren Falle aber hat das Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar, als vernünftigem Wesen, einen reinen, aber, als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affiziertem Wesen, keinen heiligen Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann. Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine Nötigung, obzwar durch bloße Vernunft und dessen objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum Pflicht heißt, weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus subjektiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objektiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann, und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller, Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf. (...)

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.142
- affizieren: reizen; Eindruck machen; bewegen


Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 8. Lehrsatz IV
Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. die Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maxime, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die Materie des Wollens, welche nicht anders, als das Objekt einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem Prinzip einer reinen praktischen Vernunft, hiemit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte.

in: Die Metaphysik der Sitten – (1797) 1798
Immanuel Kant, Werke VIII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.144 Negativ gesehen ist Freiheit das Nein zu materialen Bestimmungsgründen. Nur weil ich frei bin, kann ich Nein sagen zu der Steigerung meines Lebensgenusses durch betrügerische Versprechungen.
Positiv gesehen ist Freiheit die Möglichkeit, von mir aus, kraft meiner Vernunft, ein formales Gesetz zu schaffen, dem ich gehorchen kann. Nur weil ich frei bin, kann ich das formale Gesetz mit Hilfe des kategorischen Imperativs beschließen, an dem ich meine Maxime der Steigerung des Lebensgenusses messe.
Somit ist ein Gesetz, das die praktische Vernunft sich selbst gibt, keine Einschränkung von Freiheit, sondern ihr Wesen und ihre Möglichkeit zu wirken.
(aus: R. Ludwig, Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ – S. 93f)

Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

Beschluß

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheit verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erste Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.

in: Kritik der praktischen Vernunft – 1788
Immanuel Kant, Werke VII – Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1
. Hrsg. v. W. Weischedel; Wiesbaden 1956
S.300 wohl eine der bekanntesten und am häufigsten zitierten Sätze Kants


Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ

Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig
München; (1995) 5. Aufl. 1999
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) / Bd. 30144 / 124 Seiten
ISBN: 3-423-30144-9
sehr gute, durchweg verstehbar dargestellte und infolgedessen sehr empfehlenswerte Einführung in Kants kategorischen Imperativ







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