philosophische Landschaften

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abgetrennter oder vereinzelter Teil
von einem Ganzen

DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch



textSCHNIPSEL – Schiller

Warum diese UnterRubrik? Ist deren Bezeichnung nicht viel zu unspezifisch?

Ja und nein gleichermaßen. Denn genau das ist der Grund, genau das ist es, warum sie eingerichtet worden ist: unspezifisch zu sein, ein SAMMELSURIUM unterschiedlicher, inhaltlich-sachlicher wie interpretativ-kommentierender SPLITTER darzustellen, u. z. zu allem, was direkt oder indirekt mit Schiller zu tun hat, was irgendwie zu Schiller in Beziehung gesetzt, mit ihm in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden kann ...


09. Juli 2014 textSCHNIPSEL
zu: »Der Antikensaal zu Mannheim«


»
[...] Heute endlich, habe ich eine unaussprechlich angenehme Überraschung gehabt. Mein ganzes Herz ist davon erweitert. Ich fühle mich edler und besser.
Ich komme aus dem Saal der Antiken zu Mannheim. Hier hat die warme Kunstliebe eines deutschen Souveräns die edelsten Denkmäler griechischer und römischer Bildhauerkunst in einem kurzen geschmackvollen Auszug versammelt. Jeder Einheimische und Fremde hat die uneingeschränkteste Freiheit diesen Schatz des Altertums zu genießen, denn der kluge und patriotische Kurfürst ließ diese Abgüsse nicht deswegen mit so großem Aufwand aus Italien kommen, um allenfalls des kleinen Ruhmes teilhaftig zu werden, eine Seltenheit mehr zu besitzen, oder, wie so viele andere Fürsten, den durchziehenden Reisenden um ein Almosen von Bewunderung anzusprechen. – Der Kunst selbst brachte Er dieses Opfer, und die dankbare Kunst wird seinen Namen verewigen.
Schon die Aufstellung der Figuren erleichtert ihren Genuss um ein großes. Lessing selbst, der hier gegenwärtig war, wollte behaupten, dass ein Aufenthalt in diesem Antikensaal dem studierenden Künstler mehrere Vorteile gewährte, als eine Wallfahrt zu ihren Originalien nach Rom, welche großenteils zu finster, oder zu hoch, oder auch unter den schlechteren zu versteckt stünden, als dass sie der Kenner, der sie umgehen, befühlen und aus mehreren Augenpunkten beobachten will, gehörig benutzen könnte.
Empfangen von dem allmächtigen Wehen des griechischen Genius trittst du in diesen Tempel der Kunst. Schon deine erste Überraschung hat etwas Ehrwürdiges, Heiliges. Eine unsichtbare Hand scheint die Hülle der Vergangenheit vor deinem Aug weg zu streifen, zwei Jahrtausende versinken vor deinem Fußtritt, du stehst auf einmal mitten im schönen lachenden Griechenland, wandelst unter Helden und Grazien, und betest an, wie sie, vor romantischen Göttern.
[...]
Unter allen Figuren, die dieser Saal enthält, ist der vatikanische Apoll die vollkommenste – Zwei Blicke auf denselben sind genug, dir mit entscheidender Gewissheit zu sagen, du stehest vor einem Unsterblichen. Die reizendste Jünglingsfigur, die sich eben jetzt in den Mann verliert, Leichtigkeit, Freiheit, Rundung, und die reinste Harmonie aller Teile zu einem unnachahmlichen Ganzen, erklären ihn zu dem ersten der Sterblichen, Kopf und Hals verraten den Gott. Diese himmlische Mischung von Freundlichkeit und Strenge, von Liebenswürdigkeit und Ernst, Majestät und Milde, kann keinen Sohn der Erde bezeichnen. Die hochgewölbte Brust ist nach dem übereinstimmenden Gefühl aller Künstler die vollkommenste, die je ein Meißel geschaffen hat; Schenkel und Füße ein Muster der edelsten Schönheit. Den geübtesten Zeichner wird es ermüden, die herrlichen Formen, die durch kontrastierende Schlangenlinien ineinander schmelzen, nur für das Aug nachzuahmen; denn der griechische Meister hat ebenso delikat für das Gefühl gearbeitet; das Auge erkennt die Schönheit, das Gefühl die Wahrheit. Die letztere ist der ersteren untergeordnet, und obgleich kein Muskel vergessen ist, so hat doch der Künstler die feinere Nuancen dem Gesicht entzogen, und der Berührung vorbehalten. Die Statue schwebt – alle Muskeln wirken aufwärts, und scheinen sie sichtbar empor zu tragen. Der Künstler ergriff den Augenblick, wo der zürnende Gott auf den Drachen Python einen Pfeil abgeschossen hatte. Der rechte Arm fliegt eben vom Bogen zurück, der linke behält noch einige Härte und Spannung. – Im Auge ist hoher Unwille und feste Zielung, in der hervortretenden Unterlippe Verachtung des Ungeheuers, in dem schlank gestreckten Halse Triumph und göttliche Ehre.
[...]
Etwas geschaffen zu haben, das nicht untergeht, fortzudauern, wenn alles sich aufreibt, rings herum – O Freund, ich kann mich der Nachwelt durch keine Obelisken, keine eroberte Länder, keine entdeckte Welten aufdringen – ich kann sie durch kein Meisterstück an mich mahnen – ich kann keinen Kopf zu diesem Torso erschaffen, aber vielleicht eine schöne Tat ohne Zeugen tun! [...]«


Zur (richtigen? angemessenen?) Einschätzung der (bisweilen hochfliegenden) Ausführungen Schillers zum »Antikensaal zu Mannheim« in seinem »Brief eines reisenden Dänen« (1785) möchte ich aus den Anmerkungen zur 5-bändigen Werkausgabe (hrsg. v. Helmut Koopmann / Bd. V / S. 869) Folgendes hinzufügen. Dort heißt es:
»Schillers Brief [...] befaßt sich mit einem Bereich, zu dem er zeit seines Lebens nur ein sehr mittelbares Verhältnis hatte. Am 10. Mai 1785 besuchte er, zusammen mit der Familie von Kalb, die Sammlung in Mannheim, und unter der Maske eines durchreisenden Dänen, hinter der sich möglicherweise ein Bekannter namens Rahbek verbirgt, hat er diesen Besuch beschrieben. Schillers Bericht zeigt, daß er die in Mannheim versammelten Statuen durchaus erlebt hat. Ein eigenes Verhältnis zur Welt der bildenden Kunst hat er aber dennoch nicht gefunden. [...] Wie wenig Schiller die Statuen mit eigenen Augen sah, zeigt ein Blick auf die literarischen Vorlagen, deren er sich bediente. Lessings ›Laokoon‹ war ihm gut bekannt, und vermutlich dürfte er auch Winckelmanns Laokoon-Darstellung gekannt haben; zumindest hat Lessing ihm seine Anschauungen vermittelt. An sie hält sich Schillers Beschreibung weitgehend.«

Und im 2. Band der (zurzeit wohl besten!) Schiller-Biographie von Peter-André Alt ist – im Zusammenhang mit Schillers Elegie »Die Götter Griechenlandes« (1788) – auf S. 262 zu lesen, dass der »Brief eines reisenden Dänen« ein »gebrochene[s] Antike-Bild« vermittele. Denn dessen Versuch, »die Distanz gegenüber der griechischen Philosophie mit einer an Winckelmann und Herder ausgerichteten Verherrlichung der attischen Kunst zu verbinden,« spiegele »die weltanschauliche Gemengelage, die Schillers Denken zwischen neuzeitlicher Metaphysik und Annäherung an Positionen klassizistischer Ästhetik noch 1785 bestimmte.«

19. Juni 2014 textSCHNIPSEL
zu: »Das Publikum will immer mit Novitäten unterhalten sein«


Schillers Bemerkung – in seinem Brief vom 13. September 1794 (an seinen engen Freund Wilhelm Reinwald und Ehemann seiner Schwester Christophine in Bezug auf »einige Fabeln« Reinwalds, den er in vielen Briefen mit »lieber« oder auch »liebster Bruder« anredet) – scheint aktueller denn je in einer Zeit, in der immer Neues in immer kürzer werdendem Takt (so habe zumindest ich den Eindruck) zu unserer ständigen Unterhaltung geboten werden muss, in der das Haltbarkeitsdatum bzw. Verfallsdatum von Unterhaltsamem (dabei ist es letztlich egal, welcher Art die Unterhaltung, das gebotene Entertainment ist) immer weiter gegen Null tendiert. Wird dem Neuheitsbedürfnis nicht entsprechend Rechnung getragen, droht ein großes Gähnen aus Langeweile, droht ein sich schnell einstellendes Desinteresse aus unbefriedigter Oberflächlichkeit ...

01. Juni 2014 textSCHNIPSEL
zu: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«


»
[...] Der sinnliche Trieb schließt aus seinem Subjekt alle Selbsttätigkeit und Freiheit, der Formtrieb schließt aus dem seinigen alle Abhängigkeit, alles Leiden aus. Ausschließung der Freiheit ist aber physische, Ausschließung des Leidens ist moralische Notwendigkeit. Beide Triebe nötigen also das Gemüt, jener durch Naturgesetze, dieser durch Gesetze der Vernunft. Der Spieltrieb also, als in welchem beide verbunden wirken, wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen: Er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen. Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsere Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben, d.h., zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen. [...]«


Das zu lesen und darüber (ernsthaft-spielerisch) nach-zudenken, macht (zumindest mir) einfach Freude! Das ist einfach große klasse! – Ich kann mich nur wiederholen: Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (aus denen auch diese Textpassage entnommen ist – 14. Brief) gehören in ihrer besonderen Akzentuiertheit und zugleich Gedankenschärfe wie -vielfalt für mich zu den (im wahrsten Sinne des Wortes) denkwürdigsten und mithin lesenswertesten philosophischen Schriften. (Ja, ich möchte sogar soweit gehen und sagen: Schiller als Philosoph zählt für mich ganz persönlich zu den TOP 10 in der Philosophiegeschichte!)

Mag Schillers sog. Triebtheorie aus der Sicht gegenwärtiger, moderner (oder sollte ich ketzerisch sagen: modernistischer?) Psychologie als wissenschaftlich völlig unzureichend, als in ihrer dualistischen Dialektik vereinfachend, als tiefenpsychologisch überholt oder sonst wie erscheinen, so enthält sie in der Schiller eigenen Begrifflichkeit immerhin Elemente unserer physisch-psychisch-geistigen Struktur, die sich – soweit ich weiß – durch neuere Erkenntnisse, wenngleich unstrittig weit ausdifferenzierter, vielschichtig vernetzter und begrifflich anders gefasst, im Grundsätzlichlichen nicht wesentlich widerlegen lassen (aber vielleicht sehe ich das auch gänzlich falsch!?).

Was mich zudem an Schillers »Ästhetischen Briefen« beeindruckt, ist sein sezierender Blick auf gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhänge, sind seine provozierend kritischen Fragen, die zu stellen auch uns Heutigen nicht schlecht anstehen würden, ist doch sowohl dem Blick als auch den Fragen eine erstaunliche Aktualität inhärent (wie in einem vorgehaltenen Spiegel), wenn er – nur als ein Beispiel – u. a. im 6. Brief schreibt:
»Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern, und die Menschheit nie anders als durch Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der regierende Teil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind. Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten, das ihr von dem Staate so wenig erleichtert wird, fällt die positive Gesellschaft [...] in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die öffentliche Macht nur eine Partei mehr ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nötig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet.«

Und im gleichen Brief heißt es weiter:
»Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser. [...] Wieviel also auch das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. [...]
Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unserer Natur [...] wieder herzustellen.«

18. Mai 2014 textSCHNIPSEL
zu: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«


»
[...] Über diejenigen Ideen, welche in dem praktischen Teil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweit, aber die Menschen, ich getraue mir, es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreie sie von ihrer technischen Form und sie werden als die verjährten Aussprüche der gemeinen Vernunft und als Tatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstand versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muss der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freiwilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muss er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wieder findet und die Wahrheit in dem Bericht des Analysten als ein Paradoxon erscheint? [...]«


Genau die Auflösung jener Frage (die Schiller gleich im 1. Brief seiner 27 Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« stellt) gelingt Schiller zum einen in seinem viel zitierten Begriff des »Spiels« (in dem nämlich unser Reflexionsvermögen und unser Empfindungsvermögen in ein tätiges, wechselseitig sich befruchtendes Verhältnis treten und hierdurch zu einer »Einheit der Erkenntnis« werden) sowie zum anderen in seiner idealistischen Auffassung vom »ästhetischen Staat« (als dem Ausdruck einer »wahren politischen Freiheit«).
Genau die Auflösung jener Frage ist es, die mich seit vielen, vielen Jahren immer wieder aufs Neue dazu veranlasst, Schiller als denjenigen zu sehen, der Kants philosophische Gedanken in geradezu kongenial entwickelnder, komplementär entfaltender, synkretistisch synthetisierender Art und Weise aus eigenständiger philosophisch-poetischer Sicht vervollständigt hat (was mittlerweile – soweit mir bekannt – mehr oder weniger endlich auch gängige Forschungsmeinung ist).

[Nur so nebenbei: All das ist nachzulesen in meinem Buch »EIN ETWAS LEICHT(-)FERTIGES ANNÄHERUNGSSPIEL« – aber Achtung! Warnung! Es ist angesichts der vielen und oftmals recht umfangreich zitierten Textpassagen aus diversen Schriften Schillers und Kants und deren »philosophische Landschaften« sowie der sich immer wieder eigenmächtig sich einmischenden Ich-Figur jedoch nicht gerade leichtfüßig und/oder kurzweilig zu durchwandern!]

07. April 2014 textSCHNIPSEL
zu: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«


»
[...] Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigentum aus der Verwüstung zu flüchten. Nur in einer völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verirrungen Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so dass die Furcht zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt. [...]«


Das Zitat aus Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« hat mich geradezu dazu animiert, dieses aufzugreifen, da es mir nicht nur (im wahrsten Sinne des Wortes) des Nachdenkens wert ist, sondern zudem mit Blick an die häufig zu hörende Frage »Schiller? Noch immer aktuell?« anknüpft und sich mir die folgende Frage aufdrängt:
Könnte das Bild, das Schiller 1795 im 5. Brief seiner Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« von seinem »Zeitalter« (nämlich dem der Aufklärung! sowie der Zeit der Französischen Revolution und ihren Auswüchsen) scharf schneidend zeichnet, nicht in einigen Aspekten ebenso auf unsere (ach so freiheitlich-demokratisch aufgeklärt sich gerierende, ja sich geradezu selbst preisende!) Zeit anzuwenden sein? Und zeigt sich nicht in der Kritik, mit der Schiller »die nachteilige Richtung des Zeit-Charakters und ihre Quellen aufzudecken« unternimmt, in einigen (keineswegs unbedeutenden) Grundzügen eine verblüffende Aktualität?

Heißt es doch unmittelbar vor dem obigen Zitat aus dem 5. Brief der »Ästhetischen Briefe«:
»Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsre Grundsätze von ihr an. Die affektierte Desenz unsrer Sitten verweigert ihr [gemeint ist unsere Sinnlichkeit, unsere sinnlich-physische Natur; Anm. L. J.] die verzeihliche erste Stimme, um ihr, in unsrer materialistischen Sittenlehre, die entscheidende letzte einzuräumen. Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen, nur unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte.«

Und im 6. Brief skizziert Schiller (nicht weniger messerscharf) einen gesellschaftlich-politischen Zustand (der dem unsrigen, wie ich finde, gar nicht so unähnlich zu sein scheint), wenn er von »Vernünftelei«, von »Zerstückelung«, wenn er davon redet, dass der »fragmentarische Anteil« uns Menschen »mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält«, dass der »tote Buchstabe« den »lebendigen Verstand« vertrete.
Hierzu stellt er zunächst einen Katalog an Negativbedingungen auf:
»Wenn das gemeine Wesen [man könnte auch sagen: das Gemeinwesen; Anm. L. J.] das Amt zum Maßstab [...] macht, wenn es an dem einen seiner Bürger nur die Memorie, an einem andern den tabellarischen Verstand, an einem dritten nur die mechanische Fertigkeit ehrt, wenn es hier, gleichgültig gegen den Charakter, nur auf Kenntnisse dringt, dort hingegen einem Geiste der Ordnung und einem gesetzlichen Verhalten die größte Verfinsterung zugut hält – wenn es zugleich diese einzelnen Fertigkeiten zu einer ebenso großen Intensität will getrieben wissen, als es dem Subjekt an Extensität erläßt«. Sodann stellt Schiller die (auch für heutige Ohren nicht weniger) brisante Frage: »darf es uns da wundern, daß die übrigen Anlagen des Gemüts vernachlässigt werden, um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden?«
Und weiter führt Schiller aus (was mir zugegebenermaßen ein leichtfertiges Schmunzeln abnötigt!):
»Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein fristet, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern, und die Menschheit [vielleicht etwas hoch angesiedelt, aber was soll's; Anm. L. J.] nie anders als durch Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der regierende Teil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind. Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten, das ihr von dem Staat so wenig erleichtert wird, fällt die positive Gesellschaft (wie schon längst das Schicksal der meisten europäischen Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die öffentliche Macht nur eine Partei mehr ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nötig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet.«
Denn (so könnte ich mit Schiller fortfahren) der »Geschäftsgeist, in einen einförmigen Kreis von Objekten eingeschlossen und in diesem noch mehr durch Formeln eingeengt, mußte das freie Ganze sich aus den Augen gerückt sehen, und zugleich mit seiner Sphäre verarmen [...] und die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen [...] wollen.« Der »Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.«

Aber Schiller wäre nicht Schiller, wenn er nicht bereits zum Abschluss des 6. Briefes in seiner ihm eigenen idealistischen Denkweise – und dies in bester Wortbedeutung und ohne dabei die Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren – die Frage stellt:
»Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zweck sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt?« –, um dann selbst seine Antwort uns gibt: »Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat [hier wohl eher im Sinne einer verfälschenden Künstlichkeit; Anm. L. J.], durch eine höher Kunst [jetzt als eine, die Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu einer wechselseitig sich ergänzenden Einheit zu verbinden in der Lage ist; Anm. L. J.] wiederherzustellen.«

Allerdings scheint aus heutiger Sicht Schillers Einschätzung, dass es »eine Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert« [7. Brief] sei, angesichts immer unüberschaubarer sich anbietender und folglich sich darstellender Vernetzungen, komplexer werdender Verflechtungen (u. z. in allen Bereichen, auf allen Ebenen, zu allen möglichen Zwecken) sehr optimistisch. – Aber dennoch! (oder gerade trotzdem?) ...

14. März 2014 buchKOMMENTAR
zu: »Rußland wird nur durch Rußland überwunden.«


Armer Schiller! kann ich in freier Anlehnung an Johannes Lehmanns »respektlose Annäherung« (in seinem lesenswerten Buch »Unser armer Schiller«) da nur sagen.
Müssen denn Aussagen, Aussprüche, Verse, Zeilen oder was sonst noch, die in seinen Briefen, in seinen Werken oder wo auch immer vielfältig zu finden sind, für alles herhalten – für jedes Ereignis, für jede und bei jeder sich bietenden Gelegenheit lediglich zitierenderweise (ob nun passend oder auch nicht, ob zur Eröffnung einer Spielzeug-Messe, ob als Motto eines Restaurants oder einer Immobilienberatung, ob als Rechtfertigung überholter Bräuche, ob in einem Nachbarschaftszwist oder – wie in diesem Fall – zum hochexplosiven und in seinen Auswirkungen nicht abschätzbaren Russland-Krim-Ukraine-Konflikt!) herangezogen und dabei aus dem jeweiligen gedanklichen wie inhaltlichen Zusammenhang gerissen werden (wodurch nicht selten die Aussage des verwendeten Zitats leichtfertig verändert, ja bisweilen sogar verfälscht wird)?


Aus diesem Grund - wenn auch nur in einem Abriss - sei im Folgenden der inhaltlich-thematische Zusammenhang, aus dem das Zitat entnommen ist, kurz skizziert:
Die Titelfigur des Schiller'schen Dramenfragments basiert auf der historischen Figur des sog. »falschen Dmitri« (des »falschen Demetrius«, auch als »Pseudodimitri I.« bezeichnet), der als falscher Sohn des russischen Zaren Iwan IV. (gemeinhin als »Iwan der Schreckliche« bekannt) 1605/1606 als Dimitri II. selbst russischer Zar gewesen ist.
In Schillers Drama »Demetrius« überzeugt dieser in einer beeindruckenden Rede im polnischen Reichstag sowohl den Reichstag als auch den König davon, dass es Dmitri Iwanowitsch sei, der Sohn des Zaren Iwans IV., somit Anspruch auf den Zarenthron habe und sich zur Durchsetzung seines (angeblichen) Anspruchs die Hilfe von Polen erhoffe. Obwohl ein entsprechender Reichstagsbeschluss am Veto des Fürsten Sapiehas scheitert, zieht Polen gegen Moskau, um zusammen mit Demetrius den Emporkömmling und letztlich die Regierungsgeschäfte führenden Boris Godunow zu entmachten ...

Hier nun die Passage, in der das o. g. Zitat enthalten ist:

»[...]
SAPIEHA: Laßt alles einig sein - Ich sage  n e i n.
Ich sage Veto, ich zerreiße den Reichstag.
- Man schreite nicht weiter. Aufgehoben, null
Ist alles, was beschlossen ward.
[...]
                                    Die Mehrheit?
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist Unsinn,
Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts  h a t?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
Um Brot und Stiefel seine Stimm verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.
Der Staat muß untergehen, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt, und Unverstand entscheidet.
[...]
KÖNIG: Der Reichstag ist zerrissen.
Ich darf den Frieden mit dem Zar nicht brechen.
Doch Ihr
[1] habt mächt'ge Freunde. Will mein Adel
Auf eigene Gefahr sich für Euch waffnen,
Will der Kosak des Krieges Glücksspiel wagen,
Er ist ein freier Mann, ich kann's nicht wehren.
MNISCHEK [2]: Der ganze Rokosz [3] steht noch unter Waffen.
Gefällt dir's Herr, so kann der wilde Strom,
Der gegen deine Hoheit sich empört,
Unschädlich über Moskau sich ergießen.
KÖNIG: Die besten Waffen wird dir Rußland geben,
Dein bester Schirm ist deines Volkes Herz.
Rußland wird nur durch Rußland überwunden.
So wie du heute vor dem Reichstag sprachst,
So rede dort in Moskau zu den Bürgern;
Ihr Herz erobre dir und du wirst herrschen.
Durch fremde Waffen gründet sich kein Thron;
Noch keinem Volk, das sich zu ehren wußte,
Drang man den Herrscher wider Willen auf.
Ich bin der Schweden geborener König,
Ich habe den Thron friedlich bestigen,
Ich habe
Und doch hab ich den väterlichen Erbthron verloren,
Weil mir die Volksgesinnung widerstrebt.
[...]«

[1] gemeint ist Demetrius
[2] Mnischek - Fürst von Sendomir
[3] Rokosz - Bezeichnung für eine bewaffnete Rebellion des Adels aus Polen und Litauen gegen den König und leitet sich von dem (mittelalterlichen) Recht ab, der königlichen Gewalt zu widerstehen bzw. dem König die Gefolgschaft zu verweigern

aus: »Demetrius oder Die Bluthochzeit zu Moskau. Ein Trauerspiel - Erster Aufzug«



Aber wie dem auch sei ...
Wer zum (selbstbeweihräuchernden) Bildungsstatus derartiges benötigt - macht es doch enorm was her, diverse Schiller-Zitate zu kennen und bei Gelegenheit zu Gehör bringen zu können (ich schließe mich davon überhaupt nicht aus, benutze ich sie doch selbst!) -, dem sei empfohlen:

Johann Prossliner (Hrsg.)
Kleines Lexikon der Schiller-Zitate
erschienen 2004 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv 34145) / 255 Seiten

»Kleines Lexikon der Schiller-Zitate«



...oder erweiternd mit Blick auf (den ebenfalls immer wieder gern zitierten) Goethe:

Richard Dobel (Hrsg.)
Das Lexikon der Goethe-Zitate
(Umschlaggestaltung der 2002 im Patmos Verlag bzw. Albatros Verlag erschienenen Ausgabe)
Deutscher Taschenbuch Verlag / 1995 / 672 Seiten
(»ein Standardwerk seit fast 40 Jahren« – allerdings in einem anderen Erscheinungsbild)

»Das Lexikon der Goethe-Zitate«

20. Februar 2014 textSCHNIPSEL
zu: Schiller über Johann Gottlieb Fichte


»
[...] Fichte ist eine äußerst interessante Bekanntschaft, aber mehr durch seinen Gehalt, als durch seine Form. Von ihm hat die Philosophie noch große Dinge zu erwarten. [...]«
(in einem Brief an Körner vom 12. Juni 1794)

»[...] Er hat ein neues System in der Philosophie aufgestellt, welches zwar auf das Kantische gebaut ist, und es aufs Neue bestätigt, aber doch sehr viel Neues und Großes in der Form hat. Es wird sehr viel Aufsehen und Streit erregen; aber Fichtens überlegenes Genie wird alles zu Boden schlagen, denn nach Kant ist er gewiss der größte spekulative Kopf in diesem Jahrhundert. [...]«
(in einem Brief an Friedrich Wilhelm von Hoven vom 21. November 1794)


Obwohl J. G. FICHTE auf der langen Liste namhafter »Schriftsteller« in Schillers »Ankündigung« seiner »Monatsschrift« »Die Horen« genannt wird und anfangs (neben W. v. Humboldt und K. L. Woltmann) sogar der redaktionellen »Gemeinschaft« angehört hat (wie Schiller in dem Brief an seinen Freund Körner vom 12. Juni 1794 mitteilt) und obwohl Schillers Einschätzung im Hinblick auf Fichtes »neues System in der Philosophie« (wie dem Brief an Hoven vom 21. November 1794 zu entnehmen ist) insgesamt positiv ausfällt, so darf dennoch keinesfalls unerwähnt bleiben, dass Schillers Verhältnis zu Fichte wohl eher ein zwiespältiges, ein sich über die Zeit stark veränderndes gewesen ist.

So hat sich Schiller, wie er selbst sagt, »genötigt« gesehen, ein Manuskript Fichtes zurückzuweisen. Immerhin bezeichnet Schiller den von Fichte verfassten Manuskripttext, der eigentlich als ein Beitrag für »Die Horen«, das »Journal«, welches nach Schillers eigenen Worten »ein Epoche machendes Werk sein« soll, vorgesehen gewesen ist, (recht vernichtend) als eine zu »trockene, schwerfällige und nicht selten verwirrte Darstellung«. Und dies »um so mehr«, da ihn der »Inhalt desselben nicht viel besser als die Form« befriedige und »daß man unmittelbar von den abstrusesten Abstraktionen unmittelbar auf Tiraden« stoße, »ein Fehler, woran man schon in Ihren früheren Schriften Anstoß genommen« habe (so die Worte Schillers im 1. und 3. Bruchstück seines Briefes an Fichte vom 23. bzw. 24. Juni 1795).
Nach diesem doch recht vernichtenden Urteil hat Fichte seine Mitarbeit an Schillers Literaturzeitschrift aufkündigt, u. z. – wie es scheint – nicht wenig beleidigt. Denn am 6. Juli 1795 schreibt Schiller in einem Brief an Goethe u. a.: »Daß ich ihm aber Verworrenheit der Begriffe über seinen Gegenstand schuld gab, das hat er mir kaum verzeihen können.«

Ebenso fällt Schillers zweite Einschätzung in Bezug auf Fichte und dessen Philosophie in die Frühzeit des Verhältnisses zwischen beiden. Denn schon wenig später ist bei Schiller deutliche Skepsis gegenüber Fichtes Auffassungen festzustellen.
Zwar räumt Schiller in dem Brief vom 21. November 1794 an Hoven noch ein, dass Fichte ihn sehr interessiere. Aber Schillers skeptische Haltung äußert sich bereits in einem Brief vom 8. September 1794 an J. B. Erhard, wenn er dort nämlich schreibt: »In unserm Musensitze ist alles ruhig, und Fichte ist noch in voller Arbeit, seine Elementarphilosophie zu vollenden. Ich bin überzeugt, daß es nur bei ihm stehen wird, in der Philosophie eine gesetzgebende Rolle zu spielen [...]. Aber der Weg geht an einem Abgrund hin, und alle Wachsamkeit wird nötig sein, nicht in diesen zu stürzen. Die reine Spekulation grenzt so nahe an eine leere Spekulation und der Scharfsinn an Spitzfindigkeit.« Und Schiller fährt fort: »Was ich bis jetzt von seinem System begreife, hat meinen ganzen Beifall, aber noch ist mir sehr vieles dunkel, und es geht nicht bloß mir, sondern jedem so, den ich darüber frage«.
Zudem stellt Schiller in der Folgezeit immer größere Unterschiede in ihren grundsätzlichen, u. z. sowohl theoretischen wie gedanklich-begrifflichen Auffassungen heraus.

Zu Schillers Skepsis gegenüber Fichte mag nicht zuletzt auch dessen Nähe zu Geheimorganisationen bzw. dessen öffentliche Forderung nach Aufhebung des Verbots von Geheimorganisationen beigetragen haben (so soll Fichte seit 1794 Mitglied in der Freimaurer-Loge »Günther zum stehenden Löwen« in Rudolstadt gewesen sein), zumal Schiller nichts, aber auch gar nichts mit irgendwelchen Geheimbünden am Hut gehabt hat (trotz wiederholter Einladungen aus dem Bekannten- oder Freundeskreis, Mitglied in einem Geheimbund zu werden) schreibt er doch im 10. Brief seiner »Briefe über Don Carlos« unmissverständlich: »Ich bin weder Illuminat noch Maurer«.
Gleichwohl bringt Schiller einiges Verständnis für die Situation Fichtes auf, wenn er in einem Brief vom 1. Mai 1795 an Körner schreibt, dass Fichte in dem Sommer 1795 nicht in Jena sei. Der Grund: Fichte habe sich »in die akademische Ordensgeschichten eingemischt, worüber die Studenten so ergrimmt worden sind, daß sie ihm alles Herzeleid antaten. Nun hat er den übeln Weg ergriffen, sich zurückzuziehen und dem wilden Gesindel das Feld zu räumen«.

Erst einige Jahre später, nämlich 1798, kommt es offenbar zu einer (allerdings eher zurückhaltenden) Wiederannäherung mit Fichte. In einem Brief an Goethe vom 28. August des gleichen Jahres ist dazu Folgendes zu lesen:
»In bin in diesen Tagen von einem Besuch überrascht worden, dessen ich mich nicht versehen hätte. Fichte war bei mir und bezeigte sich äußerst verbindlich. Da er den Anfang gemacht hat, so kann ich nun freilich nicht den Spröden spielen, und ich werde suchen, dies Verhältnis, das schwerlich weder fruchtbar noch anmutig werden kann, da unsere Naturen nicht zusammenpassen, wenigstens heiter und gefällig erhalten.«

07. Februar 2014 textSCHNIPSEL
zu: Schiller und sein Verhältnis zu »faulen« Äpfeln - ein goutiertes Gerücht?


Goethe im Gespräch mit Eckermann am 07. Oktober 1827:
»[...] ›Wir waren, wie gesagt, und wie wir alle wissen,‹ fuhr Goethe fort, ›bei aller Gleichheit unserer Richtungen, Naturen sehr verschiedener Art, und zwar nicht bloß in geistigen Dingen, sondern auch in physischen. Eine Luft, die Schillern wohltätig war, wirkte auf mich wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tages, und da ich ihn nicht zu Hause fand, und seine Frau mir sagte, daß er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so daß ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohltue, und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.‹ [...]«

aus: J[ohann] P[eter] Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Dritter Teil 1822
Hrsg. v. Adolph Kohut / Berlin o. J. (1911) / Verlag von Th. Knaur Nachf. / S. 439

Eckermann – Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Hrsg. v. Fritz Bergemann / Berlin 1981 / Insel Verlag (insel taschenbuchverlag) / 951 Seiten


Die Frage, ob es sich um eine tatsächliche Gewohnheit Schillers oder lediglich um ein immer wieder goutiertes Gerücht (oder um eine kolportierte Anekdote) handelt, das der »Geheim«-Rat Goethe seinem engen Vertrauten Eckermann mitgeteilt hat, kann wohl nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden. So ist die Authentizität der »Gespräche« insgesamt seit ihrem ersten Erscheinen (1836 und 1848) bereits umstritten und wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gewesen. Das hierbei erschlossene Quellenmaterial – zumeist Briefe und Tagebücher – hat die Interpretation der Texte sowie das Bild der Persönlichkeit Eckermanns in vielfacher Hinsicht berichtigt bzw. ergänzt.

Mir jedenfalls sind dazu weder bestätigende noch widerlegende Äußerungen, Bemerkungen, Berichte und dgl. von »Zeitgenossen« bekannt (noch habe ich in meinem mir möglichen Rahmen Entsprechendes gefunden); auch nicht von Schillers Ehefrau (bis eben auf ihre bekannte, allerdings wiederum von Goethe selbst wiedergegebene Bemerkung, »daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohltue, und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne«). Zudem ist der den Tatsachen entsprechende »Wahrheitsgehalt« des 3. Teils der Eckermann'schen »Gespräche mit Goethe« mit Vorsicht zu betrachten, da sie eher auf fragmentarischen Notizen des Verfassers sowie auf lückenhaften Aufzeichnungen von Soret beruhen.

Aber noch etwas anderes scheint mir in diesem Zusammenhang nicht gerade uninteressant zu sein:
Dass Schiller ein Medizinstudium abgeschlossen (und sich in besonderem Maße mit der medizinischen Psychologie auseinandergesetzt) und dass er zeitlebens mit Krankheiten zu kämpfen gehabt und infolgedessen immer wieder zu selbst verordneter Medikation gegriffen hat – wobei er sich über »Risiken und (Neben-)Wirkungen« (soweit sie zu seiner Zeit bereits erforscht waren!) durchaus bewusst gewesen sein mag –, ist allemal hinlänglich bekannt.
Bedenkt man zudem, dass Laudanum (eine Opiumtinktur) im 18. Jh. in allen Gesellschaftsschichten sich großer Beliebtheit erfreute und ein viel benutztes Universalheilmittel (gleichsam eine Wunderdroge) aufgrund seiner schmerzstillenden und zugleich anregend beruhigenden Wirkung gewesen ist, das aber über lange Zeit eingenommen zur Abhängigkeit führt, so ist es keineswegs unwahrscheinlich oder gar auszuschließen, dass sich Schiller lieber den Ausdünstungen verschimmelnder (fauliger) Äpfel und deren (wegen der geringen Menge weit weniger gefährlichen) narkotisch und muskelentspannenden Wirkung des Ethylen bedient hat (vgl. dazu: Hermann J. Roth, Friedrich von Schiller, ein Schnüffler? / in: Deutsche Apotheker Zeitung / 145. Jg. / Nr. 1 / 07.04.2005 / S. 64).

Ebenso bekannt ist, dass er ein ausgemachter Liebhaber von Stimulanzen wie Tabak (Schnupftabak), Kaffee, Likör und Wein gewesen ist, sodass mir ein Weiteres an dieser Stelle (nicht ganz ohne Augenzwinkern!) durchaus erwähnenswert erscheint:
»[...] Im Januar 1994 erregte die Entdeckung eines bis dahin unbekannten Goethe-Manuskriptes einiges Aufsehen, in dem der Dichterfürst von einem Haschischexperiment berichtet, das er gemeinsam mit Schiller und drei seiner Studenten durchgeführt habe. Über die Datierung jener vier Blätter im Quartformat, deren Echtheit noch nicht erwiesen ist, ist bislang nichts bekannt geworden, doch es ist anzunehmen, daß der Versuch, wenn er tatsächlich je stattfand, während eines Goethe-Besuchs bei Schiller in Jena im Spätsommer oder Herbst 1797 durchgeführt wurde.« Und weiter heißt es in Alexander Kupfers Untersuchungen »Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch« (1996/2006): »Es folgt eine praktische Erprobung der möglichen Auswirkung der Droge auf das poetische Vermögen: Die Anwesenden ergreifen Papier und Feder und komponieren aufs Geratewohl – Goethe ›ein, zwei magere Sonette, die wenig Wert hatten, Schiller eine Ballade [...], welche noch weniger Wert hatte.‹ [...]« (a.a.O. S. 47/48).

So weit, so »faul«!
[vgl. zum Apfel-Thema den buchKOMMENTAR vom 23. August 2013]
 
22. Oktober 2013 buchKOMMENTAR
zu:
Jürgen Wertheimer
Schillers Spieler und Schurken – Essay
Tübingen / konkursbuch Verlag Claudia Gehrke / (2005) korrigierte Neuausgabe 2012 / 189 Seiten


Es ist nicht nur eine »korrigierte Neuausgabe«; es ist zugleich das ambitionierte Vorhaben des Autors, das »vorherrschende Schillerbild«, das »festgemauerte Bild des ›Idealisten‹ und ›Freiheitspathetikers‹ Schiller« (wie es im Vorwort heißt) zu korrigieren und ein neues Bild zu zeichnen, u. z. ein Bild Schillers, dessen Qualität »eine souveräne artistische Leichtigkeit des Spiels« sei.

Wertheimers Ansatzspunkt sind (natürlich!) Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«, die »noch immer auf eine wirkliche Entdeckung« warteten (dem kann ich mich nur anschließen!); denn Schiller beschreibe in ihnen »das kühne Experiment, den Menschen spielerisch zu sich selbst zu bringen und eine andere Form der Menschlichkeit lustvoll zu entdecken«. Wertheimers Frage lautet deshalb (berechtigterweise): »Spieltrieb statt Moralpredigt, warum nicht?«
Denn, so führt er weiter aus, richtig spielen heiße »zu lernen, womit man spielen kann und womit nicht. Und wie und mit welchen Gefühlen der Akt des Spiels verbunden sein soll. Richtig zu spielen heißt für ihn [Schiller] mit allen Sinnen zu agieren, heißt das Spiel zu spielen und mit dem Spiel zu spielen, leicht und schwerelos zu werden, heißt Freude, Freude am Schein, am ›schönen Schein‹, am ›Schein der Dinge‹ zu empfinden. Kurz: Spielen als eine ›Revolution‹ der gesamten Wahrnehmungsfähigkeit zu begreifen.«
Nur: diese Art der »Revolution« ist (nach meiner Ansicht) eine sehr wohl idealistische, eine (im besten Wortsinn) geradezu radikal idealistische! Zumal: »Richtig spielen heißt zu lernen, womit man spielen kann und womit nicht.«
Meine Frage würde deshalb eher lauten: Spieltrieb UND Moral, warum nicht? Und das (sofern ich Schiller angemessen verstehe) auch im Sinne Schillers, der gerade in dem zu errichtenden »ästhetischen Staat« (seinem idealiter vorgestellten Bild einer menschenwürdigen Gemeinschaft) die Gegenspieler Sinnlichkeit (Wahrnehmung) und Sittlichkeit (Moralität) in einem gleichwertigen, freien, ja lustvollen Zusammenspiel versöhnt und gleichsam aufgehoben sieht.

Um jedoch nicht missverstanden zu werden:
Mein kleiner kritischer Einwand bedeutet keinesfalls, dass Wertheimers Essay nicht sehr lesens- und mithin empfehlenswert wäre (hätte ich ihn sonst hier als Lesevorschlag genannt?). – Im Gegenteil! Denn Wertheimer zeigt anhand zahlreicher Beispiele aus Schillers Dramen dessen beeindruckend »souveräne artistische Leichtigkeit des Spiels«, zeigt ihn in seinen Dramen als einen »radikal illusionslose[n] Autor, der politische Entwicklungs- und Einwicklungsverfahren schonungslos transparent« gemacht habe, als einen, »der den Aufklärungsprozess nicht tugendhaft ausstaffierte, sondern radikalisierte und gelegentlich sogar spielerisch ad absurdum« geführt habe.
Der Essay gewährt einen Blick in Schillers »Wahrnehmungs-Labor«, in dem lange »vor der Moderne des 20. Jahrhunderts […] das Phänomen der Wahrnehmung und ihrer sprachlichen Verfertigung an die Stelle der so genannten Wirklichkeit getreten« sei. Und das – wie ich finde – in überzeugender und Augen öffnender Weise.
Unterstrichen und gleichsam gewürzt wird das Element des Spielerischen noch durch die (bekannten) humoristischen Zeichnungen Schillers.

»Schillers Spieler und Schurken«

17. Oktober 2013 textSCHNIPSEL
zu: Georg Büchner und Bertolt Brecht


... Zugegeben, mehr zufällig, denn beabsichtigt bin ich darauf gestoßen:

Am 17. Oktober ist der 200. Geburtstag GEORG BÜCHNERs, der in dem 1834 veröffentlichten Pamphlet »Der Hessische Landbote« (zusammen mit dem Theologen und einem der führenden Oppositionellen F. L. Weidig, der das Manuskript jedoch gegen Büchners Willen weitgehend überarbeitet hat) – dem wohl sozialrevolutionärsten Blatt vor dem »Manifest der kommunistischen Partei« – mit schonungsloser Schärfe die sozialen und materiellen Ungerechtigkeiten nicht nur beim Namen nennt, sondern sich zum ersten Mal auch statistischer Zahlen bedient. Eröffnet wird die Kampfschrift (nach einem kurzen »Vorbericht«) mit der (Büchner zwar zugeschriebenen, aber von Nicolas Chamfort stammenden) berühmten Parole »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«.
Sowohl wegen der darin vertretenen aufrührerischen Ansichten (die – selbst auf die heutigen Verhältnisse übersetzt – in ihrer Grundsätzlichkeit kaum etwas von ihrer Brisanz verloren haben – in welcher Hinsicht, braucht wohl nicht ausgeführt zu werden) sowie seines agitatorisch-revolutionären Kampfes sowie seiner (wie es seinerzeit hieß) »Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen« wurde er steckbrieflich gesucht.

Und was hat BÜCHNER nun mit SCHILLER zu tun – außer dass beide vor ihren Landesfürsten jeweils ins sog. »Ausland« geflohen sind (Schiller 1782 Flucht aus Stuttgart nach Arrest und Schreibverbot durch Herzog Karl August – Büchner 1835 Flucht aus Gießen wegen polizeilicher Überwachung und Verrat)?
Denn auch SCHILLER hat (zumindest in seinen jungen Jahren) sehr wohl rebellische Züge gezeigt (wenngleich nicht in derart aktionistisch und konsequent gesellschaftlich-politisch ausgerichteter Art und Weise wie Büchner – aber immerhin). So stand Schiller in Opposition gegen jeglichen Zwang, gegen übertriebene Repräsentation höfischen Prunks sowie gegen das »tintenklecksende Saeculum«, das »schlappe Kastraten-Jahrhundert«, kurz: gegen den moralischen Verfall der Gesellschaft.
Und genau Letzteres ist es, was Büchner mit Schiller zu tun hat.

In einem Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 (in dem er auf die Kritik sowie die unautorisierten Änderungen am Manuskript seines Dramas »Dantons Tod« reagiert) schreibt Büchner:
»[...] Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müsste mit verbundenen Augen über die Gasse gehen [...]. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, dass ich es nicht besser machen will [...]. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, dass sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller. [...]«
Das ist schon ganz schön starker Tobak in Richtung Schiller (vielleicht berechtigt, vielleicht auch nicht)!

Büchners Abneigung gegenüber Schiller zielt offenkundig gegen dessen oftmals mit nicht geringem Freiheitspathos idealistisch redendes Dramenpersonal. Aber sie ist wohl ebenso gegen Schillers Aufsatz »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« gerichtet (der durchaus programmatisch zu verstehen ist). Dort heißt es nämlich unter anderem:
»[...] So gewiss sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiss wirkt die Schaubühne tiefer und daurender als Moral und Gesetze [...]. Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben [...]. Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Tränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und Erfahrung. [...] Aber nicht genug, dass uns die Bühne mit Schicksalen der Menschheit bekannt macht, sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über ihn richten. Dann nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnis ausmessen, dürfen wir das Urteil über ihn aussprechen. [...] Mit ebenso glücklichem Erfolge würden sich von der Schaubühne Irrtümer der Erziehung bekämpfen lassen; das Stück ist noch zu hoffen, wo dieses merkwürdige Thema behandelt wird. [...] So groß und vielfach ist das Verdienst der bessern Bühnen um die sittliche Bildung; kein geringeres gebührt ihr um die ganze Aufklärung des Verstandes. [...] Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsre einsame Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seelen drücken und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen. [...]«


BERTOLT BRECHT wiederum hat das Moment des Zeigens sowie des Studierens (und nicht zuletzt auch das der Erziehung in seinen »Lehrstücken«) aufgenommen, eigenständig weiter entwickelt. Insbesondere Ersteres bekommt in seinem »epischen« bzw. »dialektischen Theater« eine ganz zentrale Bedeutung zu. Die Funktion des »Gestus des Zeigens« (wie Brecht ihn nennt) liegt – in Verbindung mit anderen dramaturgisch spezifischen Elementen epischen, dialektischen Theaters – gerade darin, die Einfühlung des Zuschauers in Figuren und Situationen (die Identifikation) zu verhindern und stattdessen (und damit im Gegensatz zu Schillers Vorstellung) Distanz zu Figuren und Situationen zu schaffen, um dadurch beim Zuschauer ein kritisches, dialektisch selbstreflektierendes Studium seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermöglichen.
Brecht stellt mit direktem Bezug zu Schillers Auffassung vom Theater kritisch die Frage: »Ist das epische Theater etwa eine ›moralische Anstalt‹?«
Seine ausführliche Antwort dazu lautet so:
»[...] Nach Friedrich Schiller soll das Theater eine moralische Anstalt sein. Als Schiller diese Forderung aufstellte, kam es ihm kaum in den Sinn, daß er dadurch, daß er von der Bühne herab moralisierte, das Publikum aus dem Theater treiben könnte. Zu seiner Zeit hatte das Publikum nichts gegen das Moralisieren einzuwenden.« Schiller erblicke in der Moral eine »durchaus vergnügliche« Angelegenheit. Denn für das Bürgertum sei es zu Schillers Zeit »etwas sehr Vergnügliches«, sein »Haus einrichten, seinen eigenen Hut loben, seine Rechnungen präsentieren. Dagegen ist vom Verfall seines Hauses reden, seinen alten Hut verkaufen müssen, seine Rechnungen bezahlen wirklich eine trübselige Angelegenheit [...]. Auch gegen das epische Theater wandten sich viele mit der Behauptung, es sei zu moralisch. Dabei traten beim epischen Theater moralische Erörterungen erst an zweiter Stelle auf. Es wollte weniger moralisieren als studieren. Allerdings, es wurde studiert, und dann kam das dicke Ende nach: die Moral von der Geschichte. Wir können natürlich nicht behaupten, wir hätten uns aus lauter Lust zu studieren und ohne anderen, handgreiflicheren Anlaß ans Studium gemacht und seien dann durch die Resultate unseres Studiums völlig überrascht worden. Es gab da zweifellos einige schmerzliche Unstimmigkeiten in unserer Umwelt, schwer ertragbare Zustände, und zwar Zustände, die nicht nur aus moralischen Bedenken heraus schwer zu ertragen waren. [...] Auch der Zweck unserer Untersuchungen war es nicht lediglich, moralische Bedenken gegen gewisse Zustände zu erregen (wenngleich solche Bedenken sich leicht einstellen konnten, wenn auch nicht bei allen Zuhörern – solche Bedenken stellten sich zum Beispiel bei denjenigen Zuhörern selten ein, die von betreffenden Zuständen profitierten!), Zweck unserer Untersuchungen war es, Mittel ausfindig zu machen, welche die betreffenden schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten. Wir sprachen nämlich nicht im Namen der Moral, sondern im Namen der Geschädigten. Das sind wirklich zweierlei Dinge, denn oft wird gerade mit moralischen Hinweisen den Geschädigten gesagt, sie müssten sich mit ihrer Lage abfinden. Die Menschen sind für solche Moralisten für die Moral da, nicht die Moral für die Menschen.
Immerhin wird man aus dem Gesagten entnehmen können, inwieweit und in welchem Sinn das epische Theater eine moralische Anstalt ist.
[...]«

Büchners offene Ablehnung des »Idealdichters« Schiller ist (nach meiner Ansicht) nicht völlig von der Hand zu weisen. Und dies insofern nicht, als Schiller das (überwiegend historische) Personal, das in seinen Dramen auftritt, ohne irgendwelche (zumindest so gut wie nicht wahrnehmbare) ironische Brechungen schnitzt und entsprechend spielen und agieren lässt, sodass die Figuren mit ihrem moralischen Habitus eher »Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos« (Büchner) gleichen bzw. die Handlungen und Verhaltensweisen der Figuren für Moralisten wie Schiller eher »für die Moral« gestaltet erscheinen und »nicht die Moral für die Menschen« (Brecht).
Für Büchner sei Schiller, so der renommierte Literaturwissenschaftler Hans Mayer in »Das Ideal und das Leben« von 1955, demzufolge »eine Art wirklichkeitsferner, idealistischer Träumer geworden: nichts entspricht weniger dem Charakter und Lebenslauf des wirklichen Friedrich Schiller als dieses Zerrbild«.


Und nur so am Rande:
Ganz im Unterschied zu BÜCHNER, von dem nur wenige Porträtzeichnungen und eine Locke erhalten bzw. überliefert sind, ist das Arsenal an Gegenständen (mann/frau ist fast geneigt zu sagen: Devotionalien) sehr gut gefüllt und (entsprechend akribisch) inventarisiert.
Dies kommt in der (sehr anschauens- und lesenswerten, mit z. T. augenzwinkernder Leichtigkeit und sachsouveräner Schreibweise nachgespürter) »Autopsie Schiller. Eine literarische Untersuchung« von Heike Gfrereis anhand sehr zahlreicher Abbildungen deutlich zur Darstellung. So heißt es etwa auf dem Klappentext: »SCHILLER existiert im Archiv von Kopf bis Fuß: Hut, Stirnband, drei Westen« zwei Hosen, zwei Paar Strümpfe, sieben Schuhschnallen, Fingerringe, Handwärmer, Zahnstocher, Schlafrockknopf und Taschenuhr, Spazierstock und zahlreiche Haarlocken werden ihm zugeschrieben.«
Und weiter heißt es, dass jene Utensilien »kleine Erzählungen« auslösten, »die in die Dichtung münden«. So etwa »vom Spazierstock zum ›Spaziergang‹, von Hygieia, die den Schlafrockknopf ziert, zu den ›Räubern‹, von den Strümpfen zum ›Untertänigsten Pro Memoria‹, von der Weste zu ›Über Anmut und Würde‹, von Schuhschnallen zum ›Wallenstein‹.«

26. August 2013 textSCHNIPSEL
zu: Schiller und seine »Reiselust«


»[...] Die Fahrt war die angenehmste. Eine malerische Landschaft, die mit jeder Krümmung des Flusses sich an Reichtum und Schönheit zu übertreffen schien, der heiterste Himmel, der mitten im Hornung einen Maientag bildete, reizende Gärten und geschmackvolle Landhäuser ohne Zahl, welche beide Ufer der Brenta schmücken – hinter uns das majestätische Venedig, mit hundert aus dem Wasser springenden Türmen und Masten, alles dies gab uns das herrlichste Schauspiel von der Welt. Wir überließen uns ganz dem Zauber dieser schönen Natur, unsere Laune war die heiterste [...]
(aus dem Romanfragment »Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen O**«)


Es ist allerdings kein Geheimnis, dass Schiller selbst nicht gerade als ein besonders Reiselustiger gelten kann. Er hat ja nicht einmal an irgendwelchen Meeresstränden gestanden (auch wenn er 1801 den Plan gehabt hat, mit seiner Familie ins Ostseebad Doberan zu reisen). Ebenso wenig hat er die Alpen gesehen (nicht einmal von Ferne, obwohl er noch 1802 den Wunsch gehegt hat, in die Schweiz zu reisen), geschweige denn sie überquert.

In einem Brief an seinen Freund Körner beschreibt Schiller am 20. Juli 1794, dass er sich »immer am übelsten auf Reisen« befinde und dass er »über den unannehmlichen Folgen des Reisens die Zwecke«, warum er reise, verliere. Und weiter heißt es in dem Brief: »Bloß wenn ich zu Hause und in meiner Ordnung bin, kann ich meinen Zufällen einige heitre und freie Stunden abgewinnen.«
Statt dessen bereitet es Schiller offenbar ein viel größeres »Vergnügen«, sich »im möglichst kleinsten körperlichen Raum im Geiste auf der großen Erde herum zu tummeln« (in einem Brief an Charlotte von Lengefeld). Was für ihn bedeutet, in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch mit Hilfe von Reisebeschreibungen, Landkarten u. dgl. allein in der Vorstellung weit entfernte Länder und Städte zu bereisen.

Frank Druffner und Martin Schalhorn fassen in »Götterpläne & Mäusegeschäfte. Schiller 1759-1805 / marbachkatalog 58« Schillers »eskapistische Reisefantasien« so zusammen:
»Und wenn es um Räumliches geht, sind Karten und Ansichten den eigenen Vorstellungen behilflich«; er bereise »den Kosmos des Wissens in der physischen, historischen und mythologischen, philosophischen, medizinischen, anthropologischen und poetischen Dimension«
Gleichwohl soll Schiller auch gesagt haben, dass »keine Reise ganz verlohren« sei, »auf der die Wahrheit gesucht« werde (a.a.O.).

In diesem Sinne: frohes Reisen (in welche Welt auch immer)!

23. August 2013 buchKOMMENTAR
zu:
Rüdiger Görner
Schillers Apfel – Szenen, Gedanken und Bilder. Zu Schillers 250. Geburtstag
Berlin / Berlin University Press / 2009 / 144 Seiten
ISBN: 978-3-940432-67-4


Es kommt (immer) darauf an, mit welchen Erwartungen und Interessen man als Leser/Leserin an die Lektüre eines Buches geht, die dann letztlich darüber entscheiden, wie das Gelesene beurteilt wird.
Denn: wer etwa einen gedanklich »strukturierten Aufbau«, einen konsequent durchgehaltenen »thematischen Schwerpunkt« (wie in der Rezension für literaturkritik.de aus dem Jahr 2010 von Erhard Jöst, einem ehemaligen Lehrer und Vielschreiber, zu lesen) oder gar Antworten auf die zahlreichen, vom Autor aufgeworfenen Fragen erwartet, sollte nicht zu dem vorgeschlagenen Buch, sondern zu anderen, nach wissenschaftlich-methodischen Kriterien abgefasste Abhandlungen greifen (die es in schier unübersehbarer Fülle gibt, aber deren manchmal eher staubtrockene – eben wissenschaftlich analysierende – Sprache einem das Lesen erschweren, mithin verleiden).
Außerdem trifft das (aus meiner Sicht) unangemessen verallgemeinernd formulierte Urteil jenes Rezensenten allenfalls durch eine wissenschaftliche Brille gelesen zu, dass nämlich derjenige enttäuscht werde, der erwarte, »dass er [Görner] irgend eine [sic!] Schiller-Episode oder einen Aspekt aus dessen Werk gründlich darstellt und erläutert« bzw. »nicht im Zusammenhang erläutert, sie werden einfach irgendwo in den Text hinein geflickt«. Ein derartiges Urteil erfasst (nach meiner Einschätzung bedauerlicherweise!) leider nicht die Qualität von Görners Buch.

Görners Darstellung oder besser: die Art und Weise seiner Darstellung erhebt mit und in keiner Zeile den Anspruch einer im wissenschaftlichen Sinn zu lesenden Abhandlung. Noch mal: Wer das Buch dennoch so liest (bzw. entsprechend rezensiert!), liest es – mit Verlaub – aus einer wenig angemessenen Sicht; denn mit Sartre kann man zusammenfassend sagen, dass Lesen gelenktes Schaffen ist, u. z. »gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen«.

Auch wenn Görners »Schillers Apfel« kein literarischer Text im eigentlichen Sinn ist (auf den sich die Aussage Sartres bezieht), so macht gerade dessen Darstellungsweise die ganz eigene Qualität des Buches aus, die zweifellos inhaltlich (wie sachlich) sprunghaft daherkommt, assoziativ, sentenzartig auftritt, bisweilen durchaus kritisch und mit einem Anflug leiser Ironie versehen ist, dann wieder (sehr wohl) ausführlich durch Werke und Lebenssituationen Schillers beziehungsreich mäandriert, dabei persönlich Erlebtes einflicht sowie eigene »Szenen zu einem Stück über Schiller« (in roter Schrift hervorgehoben!) zwischenschaltet, die eine oder andere Abbildung zeigt, vielfältige Verbindungen zu anderen Autoren herstellt und immer wieder die »faulenden Äpfel« in unterschiedlichsten Zusammenhängen zur Sprache bringt, – kurz: eine Darstellungsweise, die eher einer Gedanken- und EindrucksCollage ähnlich ist, auf die nicht zuletzt auch der Untertitel »Szenen, Gedanken und Bilder« unmissverständlich hindeutet!
Dadurch entsteht nämlich ein »Unbestimmtheitsbetrag«, ergeben sich »Leerstellen« (Wolfgang Iser), die das Lesen zu einer entdeckungsreichen, dabei nicht immer kreuzungsfreien Lektüre werden lassen (auf die man sich allerdings einlassen muss) und die, gerade aufgrund der unbeantworteten Fragen, zu eigenen (bisweilen so noch nicht gedachten, welches dem o. g. Rezensenten entgangen zu sein scheint) Denkrichtungen und/oder Assoziationen führen können.

Es ist (wie ich finde) ein Buch, das sich in einer ihm eigenen Weise (von dem mittlerweile immens gewucherten Dschungel an Literatur zu, über und um Schiller herum) wohltemperiert abhebt!
Hier noch das entsprechende Bild des Buches sowie des Schubers:

»Schillers Apfel«

19. August 2013 textSCHNIPSEL
zu: »Gruppenbild« mit Schiller UND Kant


Viele Namen aus dem näheren und weiteren, aus dem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld Schillers sind hinlänglich bekannt (und werden immer wieder genannt).
Aber das »Gruppenbild mit Schiller« bleibt unvollständig, wenn sein Name lediglich erwähnt, aber nicht entsprechend seiner Bedeutung für Schiller im Gesamtbild ausdrücklich erscheint!
Und dies nicht allein aus dem Grund, dass 2014 das 255. Geburtsjahr Schillers mit dem 290. Geburtsjahr Kants zusammenfällt.

Noch ein zweiter, weit wesentlicherer Grund spricht dafür, ihn bei einem Fotoshooting unbedingt in das »Gruppenbild« aufzunehmen. Denn immerhin hat Schiller sich in den Jahren 1787 bis 1797 nicht nur mit der kritischen Philosophie Kants beschäftigt, sondern sich seit etwa 1791 in einem intensiven Studium damit auseinandergesetzt (und dafür seine dichterischen Tätigkeiten vollständig zurückgestellt), vor allem mit Kants »Kritik der Urteilskraft«, aber auch mit anderen Schriften Kants (so z. B. mit dessen »Kritik der reinen Vernunft«, mit der Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« sowie »Zum ewigen Frieden«).
Diese Auseinandersetzung ist in Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften unverkennbar eingeflossen und wird dort geradezu in kongenialer, gleichwohl kritisch-eigenständiger Weise weiter entwickelt, ja, ich möchte sogar soweit gehen und behaupten: in seiner ihm eigenen Art und Weise vervollständigt (wie etwa in den so genannten »Kallias-Briefen«, der Vorstufe der Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, den Schriften »Über Anmut und Würde« und »Vom Erhabenen. Zur weiteren Ausführung einiger Kantischen Ideen« sowie »Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten«).

Deswegen gehört KANT (neben Humboldt, Goethe und Körner) in »Meine NEUE philosophische Bude« unbedingt zu Schillers »Band-Mitgliedern« – auch wenn Schiller (unter dem unmittelbaren Eindruck der Lektüre von Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«) am 17. Dezember 1795 in einem Brief an Goethe schreibt: »Wie beneide ich Sie um Ihre jetzige poetische Stimmung, die Ihnen erlaubt, recht in Ihrem Romane zu leben. Ich habe lange nicht so prosaisch gefühlt als in diesen Tagen, und es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Objekt.«; auch wenn es unter der Nummer 541 in einem Zweizeiler der berühmten »Xenien« mit eindeutigem Bezug auf Kant eher bedauernd über die Zeit, die während der Beschäftigung mit der Philosophie Kants vergangen ist, heißt: »Zwei Jahrzehente kostest du mir, zehn Jahre verlor ich / Dich zu begreifen und zehn, mich zu befreien von dir.«.

Schiller und Kant Selbst dann gehört er, Kant nämlich, unbestritten zu besagtem »Gruppenbild mit Schiller« dazu!

09. Juli 2013 textSCHNIPSEL
zu: Heutzutage auf Schiller verzichten?


Auf die häufig gestellte Frage, ob Schiller uns heute überhaupt noch was bringt und ob es sich lohnt, über seine Vorstellungen, Gedanken ernsthaft nachzudenken, oder ob wir nicht vielmehr auf ihn verzichten können, ist meine (unmaßgebliche) Antwort folgende:

Weder auf Schiller noch auf irgendjemand anderen können wir »verzichten«. Jeder und jede hat seinen/ihren unverwechselbaren Platz im gesamtgesellschaftlich-historischen Kontext. Jeder und jede hat irgendwann irgendwelche Spuren hinterlassen (und seien sie noch so winzig, gleichsam gegen Null gehend und scheinbar unscheinbar).
Besonders trifft jenes auf Personen zu, die in Auseinandersetzung mit Vergangenem und Gegenwärtigem in ihrer jeweiligen Ausrichtung auf Zukünftiges (sei es in dogmatisch demagogischer, ideologisch verblendeter oder kritisch aufklärender Weise), also in einem wechselseitig sich bedingenden und mithin beeinflussenden Prozess einen Namen (ob im positiven oder negativen Sinn) gemacht haben.

Einerseits wäre es nach meiner Einschätzung mehr als fahrlässig, ja geradezu kontraproduktiv (und wohl auch nicht im Sinne Schillers – sofern ich ihn richtig verstehe!), Schiller auf dem überhöhten Postament (auf das man ihn im 19. und bisweilen noch im 20. Jahrhundert gestellt hat) undistanziert (gleichsam in Ehrfurcht erstarrter Haltung) und unreflektiert zu begegnen.
Nicht weniger fatal hinsichtlich der Bedeutung Schillers mag sich ein anderes (zuweilen selbst erlebtes!) Extrem ausgewirkt haben, u. z. die nicht gerade selten praktizierte Zugriffsweise auf Werke Schillers und deren Inhalte bzw. Aussagen: »Vielleicht haben ihn die Studienräte des 19. und 20. Jahrhunderts auf dem Gewissen, mit lustlosem Auswendiglernen und stupidem Interpretieren geflügelter Worte. Dabei ist Friedrich Schiller […] eine der schwungvollsten Gestalten unserer Literatur.« (vgl. Einbandtext zu Rüdiger Safranskis »Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus«)

Andererseits bin ich der Ansicht, dass Schiller auch uns Heutigen sehr wohl noch was bringen kann: so z. B. seinen schier unbeugsamen Idealismus, seine durch freiheitlich-humanistische Ideale bestimmte Weltanschauung.
Selbst wenn ich mich jetzt verdächtig mache, ein realitätsferner bzw. realitätsblinder Spinner zu sein; aber: Was ist denn – in einer vornehmlich auf Realismus, auf Machbarkeit, auf Egoismus gebürsteten Zeit – eigentlich gegen eine idealistische Auffassung einzuwenden? Das eine muss doch das andere keineswegs ausschließen (oder sehe ich das zu idealistisch)?

Ich denke da – neben anderen Werken, die aktuelle Thematiken aufweisen, wie z. B. »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« (die z. T. auch der Gegenwartszeit entsprechende Aktualisierungen erfahren haben) – zu aller erst an seine 27 Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, die zum gedanklich ernsthaft-spielerischen Innehalten veranlassen können, indem wir (in unserer unheimlich schnelllebigen Zeit, in der soeben Vergangenes bereits völlig »out of time« ist) durch kontemplativ verlangsamte Betrachtung »die Zeit in der Zeit aufzuheben« (14. Brief) versuchen und zudem Schillers berühmten Gedanken vom »Spieltrieb«, in dem sich Sinnlichkeit und Verstand zu einem wechselseitig sich ergänzenden Zusammenwirken vereinigen und die Person zu einer vollständigen Persönlichkeit werden lassen, nachspüren.

Wenngleich viele Aussagen, Gedanken, Vorstellungen Schillers (insbesondere im Hinblick auf seine philosophisch kongenial ergänzende Beschäftigung mit der Philosophie Kants) auch in der heutigen Zeit ohne jeden Zweifel des Bedenkens wert sind, halte ich es allerdings für ein wenig übertrieben, von einem möglichen Beginn einer »Renaissance« Schillers zu sprechen (vgl. o. g. Einbandtext). Jedoch auf ihn »verzichten« kann man nicht – auch heute nicht! Ist er doch ein weiteres bedeutsames Glied in einer langen Kette bedeutsamer Persönlichkeiten und hat uns als eine solche das eine oder andere zu sagen, worüber nachzudenken sich – auch für uns Heutige – lohnt.

08. Juli 2013 textSCHNIPSEL
zu: Schiller und (seine Vorliebe für?) Bier


Bei diesen (endlich!) sommerlichen Temperaturen kommt ein klassisch-naturtrübes Bier sicherlich gut. Und wenn es dann auch noch ein »Schillerbier« ist, wohl erst recht!
Mehr oder weniger zufällig habe ich nämlich ein von der Traditionsbrauerei Mayer aus Oggersheim zum 200. Todesjahr Schillers gebrautes Spezialbräu entdeckt:
www.mayerbraeu.de

Ein entsprechendes Flaschenfoto mit Etikett gibt’s unter:
www.schillerfan.de/disco/bier.htm

Übrigens befindet sich das Brauhaus in der dortigen Schillerstraße, u. z. gleich hinter dem ehemaligen Gasthaus »Viehhof«, dem heutigen »Schillerhaus« (in dem Schiller einstmals logiert hat und die Erstfassung seines »Fiesco« geschrieben haben soll). – Gibt's noch mehr Zufälle?
Damit gibt es nunmehr neben der fischigen und blätterteigigen »Schillerlocke« sowie dem seinerzeit unbürgerlich geöffnet und lässig-revolutionär getragenen »Schillerkragen« auch noch ein »Schillerbier«.

Also dann: Prost! (oder besser: Prosit! – Es möge nützen!)
(Ach übrigens: der allgemeinsprachlich bekannte Trinkspruch stammt wohl ursprünglich aus der Burschenschafts- oder Studentensprache zu Beginn des 18. Jahrhunderts!)
F. Schiller: mit Vergnügen trinke ich Bier
(Ich habe natürlich – oberlehrerhaft pedantisch und kleinkariert! – mal wieder etwas zu bemäkeln:)
Wie nicht selten festzustellen(!) wird leider auch über dem Eingang der »Salzscheuer Bräu« (Mittlere Holundergasse 11) in Marbach, unweit des Geburtshauses Schillers, die häufig zitierte Aussage Schillers um ein Wort gekürzt, nämlich um das Wort »mehr« (selbst wenn der Satz ohne jenes Wort sich irgendwie »flüssiger« liest und keine Fragen nach einem Weniger aufkommen lässt). Dadurch wird die Aussage aus dem Zusammenhang gerissen und mithin etwas leichtfertig verfälschend perpetuiert.

In einem Brief Schillers an Henriette von Wolzogen (vom 13. Nov. 1783), aus dem das Zitat entnommen ist, heißt es im Zusammenhang mit einem nur langsam abklingenden »böse[n] kalte[n] Fieber« (wie Schiller es nennt) sowie mit den vier Flaschen »Burgunder«, die ihm von einem Freund zum Geburtstag geschickt worden sind: »davon wird zuweilen ein Gläschen mit herrlichem Erfolg getrunken, doch muß ich Ihnen gestehen, daß ich mir äußerst wenig aus dem Wein mache, so wohlfeil und gut er hier zu haben ist.« Und jetzt folgt der immer wieder unvollständig zitierte Ausspruch Schillers: »Mit mehr Vergnügen trinke ich Bier. Freuen Sie sich also, ich werde mich auf diese Art bald wieder ins Bauerbacher Leben gewöhnen.«

08. Juli 2013 buchKOMMENTAR
zu:
»Gnädigster Herr, ich habe Familie«
Schillers Bitt- und Bettelbriefe - ausgewählt u. kommentiert v. Christiana Engelmann
München / Sanssouci i. Carl Hanser Verlag / 2009 / 80 Seiten

»Dichterschulden nach zwei Jahrhunderten beglichen«


Eine wirklich empfehlenswerte und informativ kommentierte Zusammenstellung von Briefen Schillers, die einen bisweilen schmunzeln lässt und zugleich einen differenzierteren Blick auf die Person Schiller ermöglicht.


Weniger zum Schmunzeln ist einem dagegen zumute, wenn – wie in Bauerbach geschehen – »zur Einleitung des Schillerjahres 2009« allen Ernstes die »Dichterschulden nach zwei Jahrhunderten beglichen« werden. Das hat schon etwas Skurriles. Und das insbesondere, wenn vom reizenden »Spender« zur Begründung abschließend (mit einem aus meiner Sicht völlig unangebrachten und überzogenen Pathos, dem das Augenzwinkernde abgeht – oder bin nur ich so humorlos?) gesagt wird, dass einem »Dichter von bis an den Himmel reichender Erhabenheit […] nicht das [sic!] Makel weltlicher Ungereimtheiten beflecken [sollte] – selbst nach seinem Tode nicht.«!

Zu finden und nachzulesen im online-Artikel.de unter:
www.online-artikel.de/article/dichterschulden-nach-zwei-jahrhunderten-beglichen-13098-1.html

»

Dichterschulden nach zwei Jahrhunderten beglichen
(Autor: Medfux / Erstellt am: 06.12.2008)

(Online-Artikel.de) – Thüringer Gönner entlasten Friedrich Schiller postum von weltlichen Pflichten – aus Anlaß der Einläutung des Schillerjahr 2009 in Bauerbach
Goethe und Schiller
Der reiche und der arme Dichter

»Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.«

Erfurt, den 5.12. – 225 Jahre nach Ankunft Friedrich Schillers im Thüringischen Bauerbach begleicht ein Wohltäter dessen dortige Schulden – zur Einleitung des Schillerjahres 2009. Der Dichter, Philosoph und Humanist hatte im dortigen Wirtshaus bis heute Außenstände hinterlassen.

Von diesem Übel erlöst ist der Verfasser des Eingangszitats. 203 Jahre nach seinem Tod tilgt die Erfurter Medienagentur »medfux« dessen letzte Außenstände. Sie betreffen eine Rechnung des Wirtshauses »Zum braunen Roß« in Bauerbach. In der kleinen südwestthüringischen Gemeinde hatte der große Humanist und Dichter zwischen 1782 und 1783 ein knappes Jahr Unterschlupf gefunden, nach seiner Flucht aus Württemberg. Die »Rechnung Nummero 58« weist unter anderem »14 Essen« und »4 Eimer Bier« sowie Beträge »vor das Pferd« und »Licht« aus; Außenstände, die Schillers damalige Wohltäterin Henriette von Wolzogen begleichen wollte, ohne das [sic!] der Vollzug dieser Absicht feststellbar ist. Da ebenfalls unklar ist, in welcher Währung Schiller hätte zahlen müssen, übergeben die späten Mäzene den symbolischen Betrag von 50 Euro sowie, ehrenhalber, die Wortpatenschaft für »Lammesgeduld« an die heutigen Inhaber des Gasthauses. Anlaß dazu bietet der Festakt der Gemeinde Bauerbach am 6. Dezember, welcher zum Geburtstag des Poeten das Schillerjahr 2009 einläutet.

»Einem Dichter von bis an den Himmel reichender Erhabenheit sollte nicht das [sic!] Makel weltlicher Ungereimtheiten beflecken – selbst nach seinem Tode nicht«, sagt Spender Tobias Mindner.

«

07. Juni 2013 buchKOMMENTAR
zu:
Loch in Erde, Bronze rin – Schiller-Parodien oder Der Spottpreis der Erhabenheit
zusammengestellt u. hrsg. v. Dieter Hildebrandt / 2004
München / Sanssouci i. Carl Hanser Verlag / (2004) 2009 / 64 Seiten


Den zusammenfassenden Vierzeiler

»Loch in Erde,
Bronze rin,
Glocke fertig,
Bim, bim, bim.«

von Schillers »Das Lied von der Glocke« kennt (vermutlich) jeder/jede, der/die irgendwann in seiner/ihrer Schulzeit irgendetwas mit Schiller zu tun gehabt hat – und wer hat das nicht!


Ob allerdings die Kurzfassung von Goethes Ballade »Erlkönig« bekannt ist, weiß ich nicht so genau. Meine Mutter hat sie mir in jungen Jahren beigebracht und ich habe sie in der Schule (als es noch durchaus üblich war, Gedichte auswendig zu lernen und mit entsprechender Betonung deklamatorisch vorzutragen) vor versammelter Klasse (natürlich einschließlich meiner Lehrerin) naiv stolz leichtfertig zu Gehör gebracht.
Über den ungeteilten Erfolg bei meinen Mitschülern (aber eben nur bei denen, nicht aber bei meiner Lehrerin!) brauche ich an dieser Stelle wohl nichts weiter zu sagen. Die etwas frivole Kurzfassung lautet nämlich so:

»Nacht, Wind,
Vadder mit Kind,
Kind kalten Arsch,
weg warsch.«

07. Mai 2013 buchKOMMENTAR
zu:
Friedrich von Schiller – Von der Schönheit zur Freiheit. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen
In einer Auswahl hrsg. v. Yvonne Schwarzer
Witten / ars momentum kunstverlag / 2005 / 84 Seiten


Lange habe ich überlegt, ob ich hierzu überhaupt einen Kommentar abgebe und wenn, wie dieser ausfallen darf, soll, muss... Gehören Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« nach meiner Einschätzung doch zu den philosophisch bedeutendsten und nach wie vor höchst lesenswerten Abhandlungen zum Thema »Schönheit – Mensch – Freiheit«.
Daher ist es mir unverständlich, warum die Herausgeberin der »Briefe« erstens bei ihrer Auswahl auf die Briefe 4 bis 8 verzichtet hat und zudem zweitens den Verfasser der »Briefe« zeitlich unzutreffend mit dem Adelstitel versieht.
Zum einen sind die fünf nicht aufgenommenen Briefe insbesondere für den Nachvollzug von Schillers Gedankengang keineswegs unerheblich, auch wenn die Herausgeberin auf Seite 83 erklärt (oder eher zu erklären versucht), warum die Briefe 4 bis 8 nicht berücksichtigt worden sind. Sie hätten den Seitenumfang der Ausgabe nicht über Gebühr ausgeweitet.
Zum anderen ist Schiller das Adelsdiplom erst 1802, also sieben Jahre nach dem Erscheinen der »Briefe« (1795) verliehen worden. Hinzu kommt, dass Schiller auf den Adelstitel selbst keinen gesteigerten Wert gelegt hat, sondern ihm dieser lediglich mit Blick auf seine Ehefrau Charlotte (die durch die Heirat mit ihm ihren Adelstitel mit allen damit verbundenen gesellschaftlichen Privilegien hat aufgeben müssen) sowie seine Kinder als besondere Auszeichnung durchaus angenehm gewesen ist.


Um Inhalte, Aussagen, Intention, Gedankenführung in ihrer sprachlichen Gesamtheit (also in den insgesamt 27 Briefen) nachzulesen (und zugleich ihrer Aktualität, zumindest Aktualisierbarkeit nachzuspüren!), möchte ich aus der Vielzahl von Ausgaben 2 (durchaus erschwingliche) Ausgaben der »Ästhetischen Briefe« Schillers für Interessierte hier besonders herausheben:


1. Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer von Briefen
Kommentar von Stefan Matuschek
Frankfurt a. M. / Suhrkamp Vlg. / 1. Aufl. 2009 / 283 Seiten
i. d. Reihe: Suhrkamp Studienbibliothek (stb) 19
ISBN: 978-3-518-27016-5

Zusätzlich zu den sorgfältig edierten »Ästhetischen Briefen« bietet dieser Band einen sehr lesenswerten, zugleich umfangreich informierenden (und, wie ich finde, derzeit wohl auch besten) Kommentarteil. Neben einer (akzentuierenden) Einleitung in den historischen Zusammenhang sowie eines Abrisses der Rezeptionsgeschichte wird jeder einzelne Brief (mit entsprechend zusammenfassender Überschrift versehen) ausführlich erläutert; hinzu kommen skizzierte Positionen der Forschung, ein Stellenkommentar, ein Begriffsglossar (Umfang des Kommentarteils: 156 Seiten).


2. Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen
Hrsg. v. Klaus L. Berghan
Stuttgart / Philipp Reclam jun. Vlg. / (2000) 2010 / 287 Seiten
i. d. Reihe: Reclams Universal-Bibliothek / Bd. 18062

Diese Ausgabe enthält nicht nur die »Ästhetischen Briefe«, sondern auch deren Vorstufe, die sog. »Augustenburger Briefe« (wodurch ein direkter Vergleich beider Fassungen sehr erleichtert wird). Auch in diesem Band gibt es neben einem recht umfangreichen und nicht weniger informativen Anmerkungsteil zur Entstehungsgeschichte ebenso (kurz gefasste) Kommentare zu den einzelnen Briefen sowie ein lesenswertes Nachwort des Herausgebers (Umfang des Anmerkungsteils und des Nachworts: 85 Seiten).


Friedrich Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«


[erstellt: 20.09.2014]







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