Zu Kants 210. Todestag am 12.02.2014
Ohne in irgendwelche zweifelhaften Ehrerbietungsbezeugungen oder -fantasien abzudrehen, halte ich es für angezeigt, an KANTs 210. Todestag mit wenigen Gedankenschnipseln zu erinnern – auch und gerade in Verbindung mit Schiller.
Hat Kant doch mit seiner im besten Sinn kritisch-aufklärerischen Philosophie, seiner Transzendentalphilosophie, den entscheidenden Perspektivwechsel, mithin einen »Paradigmenwechsel« (Thomas S. Kuhn) vollzogen und gilt zu Recht als der folgenreichste Philosoph der Neuzeit und lieferte mit seinen drei Kritiken (der Kritik der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik, an denen (aus meiner Sicht) kein modernes Philosophieren mehr vorbei kommt und hinter die auch kein modernes Philosophieren mehr zurück kann – wenn es denn ernst genommen werden will.
»Denn Philosophie in der letztern Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordiniert sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen.« (Kant in der »Einleitung« zu seiner »Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen«)
Die in Analogie zu Kopernikus (den Kant selbst erwähnt und die deshalb als sog. »kopernikanische Wende«) bezeichnete »Revolution der Denkart« (so Kant in der 2. Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft«) hat Moses Mendelssohn (in seinem »Vorbericht zu seinen Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes. Erster Teil«) veranlasst, Kant als »Alleszermalmer« zu bezeichnen. Ein anderer Philosoph, nämlich Henri-Louis Bergson, soll Kant irgendwann einmal sogar als »Zertrümmerer der Metaphysik« tituliert haben.
In den sehr ausführlichen »Vorerinnerungen« zu seinem Briefwechsel mit Schiller schreibt Wilhelm von Humboldt:
»[…] Kant unternahm und vollbrachte das größte Werk, das vielleicht je die philosophierende Vernunft einem einzelnen Mann zu danken gehabt hat. Er prüfte und sichtete das ganze philosophische Verfahren auf einem Weg, auf dem er notwendig den Philosophien aller Zeiten und aller Nationen begegnen mußte, er maß, begrenzte und ebnete den Boden desselben, zerstörte die darauf angelegten Truggebäude, und stellte, nach Vollendung dieser Arbeit, Grundlagen fest, in welchen die philosophische Analyse mit dem durch die früheren Systeme oft irregeleiteten und übertäubten natürlichen Menschensinn zusammentraf. Er führte im wahrsten Sinne des Worts die Philosophie in die Tiefen des menschlichen Busens zurück. Alles, was den großen Denker bezeichnet, besaß er in vollendetem Maße, und vereinigte in sich, was sich sonst zu widerstreben scheint; Tiefe und Schärfe, eine vielleicht nie übertroffene Dialektik, an die doch der Sinn nicht verloren ging, auch die Wahrheit zu fassen, die auf diesem Wege nicht erreichbar ist, und das philosophische Genie, welches die Fäden eines weitläufigen Ideengewebes, nach allen Richtungen hin, ausspinnt, und alle vermittelst der Einheit der Idee zusammen hält, ohne welches kein philosophisches System möglich sein würde. Von den Spuren, die man in seinen Schriften von seinem Gefühl und seinem Herzen antrifft, hat schon Schiller richtig bemerkt, daß der hohe philosophische Beruf beide Eigenschaften (des Denkens und des Empfindens) verbunden fordert. […] Einiges, was er zertrümmert hat, wird sich nie wieder erheben; einiges was er begründet hat, wird nie wieder untergehen; und was das Wichtigste ist, so hat er eine Reform gestiftet, wie die gesamte Geschichte der Philosophie wenig ähnliche aufweist. […] Da er nicht sowohl Philosophie, als zu philosophieren lehrte, weniger Gefundenes mitteilte, als die Fackel des eigenen Suchens anzündete, so veranlaßte er mittelbar mehr oder weniger von ihm abweichende Systeme und Schulen, und es charakterisiert die hohe Freiheit seines Geistes, daß er Philosophien, wieder in vollkommner Freiheit und auf selbst geschaffnen Wegen für sich fortwirkend, zu wecken vermochte. […]
Es lag in Schillers Eigentümlichkeit, von einem großen Geiste neben sich nie in dessen Kreis herübergezogen, dagegen in dem eignen, selbst geschaffenen durch einen solchen Einfluss auf das mächtigste angeregt zu werden, […] aber die fremde Individualität ganz, als verschieden, zu durchschauen, vollkommen zu würdigen, und aus dieser bewundernden Anschauung die Kraft zu schöpfen, die eigne nur noch entschiedner und richtiger ihrem Ziel zuzuwenden, gehört wenigen an, und war in Schiller hervorstechender Charakterzug. Allerdings ist ein solches Verhältnis nur unter verwandten Geistern möglich, deren divergierende Bahnen in einem höher liegenden Punkte zusammentreffen, aber es setzt von Seiten der Intellektualität die klare Erkenntnis dieses Punkts, von Seiten des Charakters voraus, daß die Rücksicht auf die Person gänzlich zurückbleibe hinter dem Interesse an der Sache. Nur unter dieser Bedingung gehen Bescheidenheit und Selbstgefühl, wie es die Bestimmung ihres idealistischen Zusammenwirkens ist, wahrhaft in Unbefangenheit über. So nun stand Schiller auch Kant gegenüber. Er nahm nicht von ihm […]. Allein dennoch wurde jene Bekanntschaft zu einer neuen Epoche in Schillers philosophischem Streben; die Kantische Philosophie gewährte ihm Hilfe und Anregung.« (»Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm v. Humboldt. Mit einer Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung von W. von Humboldt«)
Sowohl Empfindung als auch Reflexion, »Größe und Macht der Phantasie stehen in Kant der Tiefe und Schärfe des Denkens unmittelbar zur Seite« (Humboldt in seinen »Vorerinnerungen«) und erfahren in dem »Beschluß« in Kants »Kritik der praktischen Vernunft« ihren nach wie vor beeindruckenden und bleibenden Ausdruck:
»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten.«
Selbstverständlich nicht zu vergessen ist Kants praktischer Imperativ, nämlich sein berühmter (und – wie ich finde – zu Unrecht oftmals verunglimpfter) »kategorischen Imperativ«:
»Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«) – oder in zwei anderen Fassungen:
»Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne.« (in »Die Metaphysik der Sitten«)
»Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (»Kritik der praktischen Vernunft« – gilt gemeinhin als die Definition, die Fassung des kategorischen Imperativs und ist die wohl bekannteste und in aller Regel am häufigsten zitierte Version)
Unbedingt anmerken möchte ich, dass bei allen Einwänden gegen Kants »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« nicht selten viel zu wenig beachtet wird, dass der Akzent auf der Maxime liegt (»so fern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht« – in Kants »Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen«) und nicht etwa auf der Handlung oder dem Willen; denn sowohl die Handlung als auch der Wille sind jeweils der Maxime nachgeordnet und sind insofern durch sie bestimmt. (Und wer weiß – dies nur meine unbescheidene Meinung! –, wer weiß, vielleicht sähe Einiges besser, menschenwürdiger aus, wenn wir uns der Bedeutung sowie der Funktion und nicht zuletzt der Wirkung dieses Gesetzes in selbst-reflektierender, verantwortlicher Weise wirklich bewusst wären bzw. uns dieses bewusst machten?!)
Aber, wie sagt doch Kant in seinen »Reflexionen zur Anthropologie« so treffend: »Alle Ermahnungen sind langweilig, aber die Empfehlungen sind unterhaltend; bei jenen will man dartun, daß alle Tugenden beifallswürdig sind, und daran hat niemand gezweifelt; bei diesen: daß das tugendhafte Verhalten auch Vorzüge habe, und zwar mehr als das Laster, und das lockt an.«
Übrigens bin ich mit Kant ebenfalls der Ansicht, dass es »unmöglich« sei, »Philosophie zu lernen«, sondern dass es vielmehr (und vor allem) darauf ankommt, »philosophieren zu lernen«! (so Kant in seiner »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 – 1766«)
Ebenfalls bis in die Gegenwart fortgeschrieben sind Kants hinlänglich bekannte 4 Fragen, mit denen sich das »Feld der Philosophie« sinnigerweise gliedern lässt, nämlich:
»1. Was kann ich wissen? – 2. Was soll ich tun? – 3. Was darf ich hoffen? – 4. Was ist der Mensch?« (in Kants »Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen«) (vgl. etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, R. D. Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?)
Obwohl vieles aus der Philosophie Kants durchaus Eingang in unser alltägliches Denken gefunden, bisweilen den Rang von Selbstverständlichkeiten erreicht haben mag, scheint die Aussage nicht völlig von der Hand zu weisen zu sein, dass »Kant […] noch immer verkannt« werde.
»Kant zum Vergnügen« könnte da vielleicht Abhilfe schaffen, denn man »braucht nur Kants Überzeugung ernst zu nehmen, daß die pflichtbewußten Menschen nichts erreichen, wenn sie sich nicht auch ihrer Neigung versichern können. Kurz: Zum Ernst des moralischen Bewußtseins, wenn es denn Erfolg haben will, gehört die Heiterkeit.« (so zumindest Volker Gerhardt in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung »Kant zum Vergnügen«)
Deshalb eine zum Schmunzeln anregende Anekdote, die Zelter Goethe in einem Brief erzählt:
»›Aber‹, spricht Kant, ›hast du Geschäftsmensch wohl auch einmal Lust, meine Schriften zu lesen?‹ – ›O ja! und ich würde es noch öfter tun, nur fehlen mir die Finger.‹ – ›Wie versteh' ich das?‹ – ›Ja, lieber Freund, Eure Schreibart ist so reich an Klammern und Vorbedingtheiten, welche ich im Auge behalten muß; da setze ich den einen Finger aufs Wort, dann den zweiten, dritten, vierten, und ehe ich das Blatt umschlage, sind meine Finger alle.‹« (aus »Kant zum Vergnügen«)
Abschließen möchte ich meinen kursorischen Ausflug mit Kants eigenen Worten:
»Alle Menschen haben Vorurteile, nur von verschiedener Art. Der allein ist davon frei, dem es leicht wird, die Sache aus einem ganz andern Gesichtspunkt zu betrachten.« (Kant in »Philosophische Enzyklopädie«) und »Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden«.
[11.02.2014]
|
|