philosophische Landschaften

Hohlspiegel: Spiegel mit konkaver, nach innen gewölbter Oberfläche,
der das Spiegelbild vergrößert wiedergibt

DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch



Auf meiner »über mICH«-Seite habe ich gesagt, dass ich die ausgewählten »philosophischen Landschaften« – wenn überhaupt – nur gelegentlich verlassen und deren Grenzverläufe nur äußerst selten überschreiten werde. Grundsätzlich soll das auch weiterhin so bleiben.

Doch da ich mich unvermeidlich, mithin notwendigerweise des Mediums SPRACHE bediene, bedienen muss – nicht zuletzt in denjenigen »Landschaften«, in denen ich mich vorzugsweise herumtreibe (ob nun im Unterholz, auf freiem Feld oder sonst wo, ob nun gekonnt oder nicht!) –, erlaube ich mir, auch in jener, sehr wohl eigenständigen »philosophischen Landschaft« völlig andersartiger Topographie, zudem mit Grenzen überschreitenden unterschiedlichsten Höhenlinien fröhlich dilettierend (u. z. in der ursprünglich positiven Bedeutung des Wortes und nicht etwa in der durch Schiller eher negativ konnotierten) zu wildern und Inhalte, Auffassungen und dergleichen über das Phänomen der menschlichen Sprache zusammenzutragen und hier zur Sprache zu bringen.

[05.04.2012]



Sammelsurium verschiedenartigster Texte zum Phänomen »SPRACHE«


1. FRIEDRICH SCHILLER

84. Sprache
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!
Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.

aus: Gedichte aus dem Musenalmanach für 1797 – 64. Tabulae votivae
Bd. III / S. 305



2. FRIEDRICH SCHILLER

[...]
Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinandergreifen. Ganz und vollzählig überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt.   I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden. Dahin gehören alle, die dem Menschengeschlechte selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren.   II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden, und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge auszudrücken und weiter mitzuteilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen. Von Munde zu Munde pflanzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media ging, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese Veränderungen miterleiden. Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverlässige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren.   III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich; unzählig viele Denkmäler des Altertums haben Zeit und Zufälle zerstört, und nur wenige Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet. Bei weitem der größre Teil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte, für die Weltgeschichte verloren.   IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand, und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und unkennbar gemacht. Das Mißtrauen erwacht bei dem ältesten Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal bei einer Chronik des heutigen Tages. Wenn wir über eine Begebenheit, die sich heute erst, und unter Menschen, mit denen wir leben, und in der Stadt, die wir bewohnen, ereignet, die Zeugen anhören und aus ihren widersprechenden Berichten Mühe haben, die Wahrheit zu enträtseln: welchen Mut können wir zu Nationen und Zeiten mitbringen, die durch Fremdartigkeit der Sitten weiter als durch ihre Jahrtausende von uns entlegen sind?
[...]

aus: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. 1789
Bd. IV / S. 714f



3. Immanuel Kant

[...]
Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören. Dem Taubgebornen ist sein Sprechen ein Gefühl des Spiels seiner Lippen, Zunge und Kinnbackens, und es ist kaum möglich, sich vorzustellen, daß er bei seinem Sprechen etwas mehr tue, als ein Spiel mit körperlichen Gefühlen zu treiben, ohne eigentliche Begriffe zu haben und zu denken. – Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder andere, und an dem Mangel des Beziehungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch derselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nicht einige sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird.
[...]

aus: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) 1800
Von dem Bezeichnungsvermögen (facultas signatrix) / § 36
Bd. XII / S. 500



4. Das Evangelium nach Johannes

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.
Dies war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch das Wort gemacht, und ohne das Wort ist nichts gemacht. [...]
Und das Wort wurde Mensch und wohnte unter uns [...]

gemeint ist der durch Johannes den Täufer angekündigte Sohn Gottes (Jesus Christus, der Erlöser)

aus: Kapitel 1, Vers 1-4 / 14



5. Johann Wolfgang Goethe

Faust:
[...]
Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich von Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
[...]

Szene: Studierzimmer – Vers 1224-1237
griechsich logos ist vieldeutig, meint zugleich »Wort«, »Begriff«, »Vernunft«
Herder beklagt 1774: »Aber das Deutsche Wort sagt nicht, was der Urbegriff sagt« und schlägt 1775 (in den Erläuterungen zum NT) vor: »Gedanke! Wort! Wille! That! Liebe!«
Faust lässt die zentrale christologische Bedeutung des Wortes als des fleischgewordenen Gottes, also Christus, außer Acht, denkt wohl eher an Menschenworte

aus: Faust. Der Tragödie Erster Teil
Bd. II / S. 1039



6. Eugen Gomringer

schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen

eines der frühesten Beispiele konkreter Poesie (1953) und wohl auch eines der bekanntesten

aus: konkrete poesie – deutschsprachige autoren
anthologie von eugen gomringer
stuttgart / 1972 / S. 58



7. Eugen Gomringer

worte sind schatten
schatten werden worte

worte sind spiele
spiele werden worte

sind schatten worte
werden worte spiele

sind spiele worte
werden worte schatten

sind worte schatten
werden spiele worte

sind worte spiele
werden schatten worte

aus: konkrete poesie – deutschsprachige autoren
anthologie von eugen gomringer
stuttgart / 1972 / S. 59



8. Timm Ulrichs
denk-spiel
(nach descartes)

ich denke, also bin ich.
ich bin, also denke ich.
ich bin also, denke ich.
ich denke also: bin ich?

aus: konkrete poesie – deutschsprachige autoren
anthologie von eugen gomringer
stuttgart / 1972 / S. 138



9. Wolfgang Bächler
Ausbrechen


Ausbrechen
aus den Wortzäunen,
den Satzketten,
den Punktsystemen,
den Einklammerungen,
den Rahmen der Selbstbespiegelungen,
den Beistrichen, den Gedankenstrichen
– um die ausweichenden, aufweichenden
Gedankenlosigkeiten gesetzt –
Ausbrechen
in die Freiheit des Schweigens.

entstanden 1976
»Ausbrechen« woraus? – »Ausbrechen« wohin?
gedankliche Klammer der Verse 1/2 und 10/11
Aufzählungen (Verse 2-9) unterschiedlicher Bilder für das »Ausbrechen« verdeutlichen die sprachlichen und gedanklichen Einschränkungen, denen das Gedichtsubjekt (lyrische Ich) ausgesetzt ist
optisch verdeutlichte Umsetzung des Fachbegriffs ›Gedankenstriche‹ durch die vom übrigen Satzgebilde abhebenden Gedankenstriche (Parenthese)
freie Rhythmen / freie Verse
Enjambement (»Ausbrechen / aus« - »aufweichenden / Gedankenlosigkeiten« / »Ausbrechen / in«)
Oppositionen (»aus« - »in« / »Wortzäunen« - »Freiheit des Schweigens« / »ausweichenden« - »aufweichenden« / »Gedankenstrichen« - »Gedankenlosigkeiten«)

aus: Wolfgang Bächler, Ausbrechen. Gedichte aus 30 Jahren
Frankfurt a. M. / 1976 / S. 193



10. Horst Bienek
Wörter


Wörter
meine Fallschirme
mit euch
springe
ich
ab

Ich fürchte nicht die Tiefe
wer euch richtig
öffnet

schwebt

aus: Horst Bienek, Gleiwitzer Kindheit. Gedichte aus zwanzig Jahren
München 1976 / S. 5



11. Erich Fried
Definition

Ein Hund
der stirbt
und der weiß
dass er stirbt
wie ein Hund

und der sagen kann
dass er weiß
dass er stirbt
wie ein Hund
ist ein Mensch

aus: Erich Fried, Warngedichte – 5. Sprüche und Widersprüche
Frankfurt a. M. / 1980 / S. 134



12. Ernst Jandl

die rache
der sprache
ist das gedicht

aus: ernst jandl, peter und die kuh. gedichte (2001)





[zusammengestellt: 20.05.2012 – ergänzt: 28.06.2012]







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